Ist die Gesellschaft gespalten?
Anfang der 1980er-Jahre war ich als Volontär Gerichtsreporter beim Münchner Merkur. In einer Verhandlung ging es um einen Arzt, der Rauschgiftsüchtigen unerlaubterweise Ersatzmedikamente verschrieben hatte. Er war so erschüttert vom Leid dieser Menschen, dass er nur diesen illegalen Ausweg gesehen hatte. Ich hätte so gern die Zwischentöne dieses Verfahrens beschrieben, aber ich bekam nur wenig Platz für meinen Artikel. Und der Chef wollte eine schmissige Überschrift à la: „Profitgieriger Mediziner wegen Drogenhandels verurteilt.“
So geht es vielen, nicht nur im Journalismus. Hat man keine Zeit, sich tiefergehend mit einem Thema zu befassen, ist man zum Schwarz-Weiß-Malen geradezu gezwungen: Pharmazie – böse. Politiker – unfähig. Wir im Recht – andere im Unrecht. Aber wären Sie noch am Leben ohne Antibiotika? Wie sind die Politiker, die Sie persönlich kennen? Schwarz und Weiß reichen nicht aus, nicht einmal grau. Alles ist farbig!
Vor wenigen Monaten traf sich die Deutsche Gesellschaft für Soziologie in Bielefeld zum Thema „Polarisierte Welten“. Im Vorfeld wurden große Studien durchgeführt, mit Umfragen und intensiven Beobachtungen in Kleingruppen. Vom Ergebnis ihrer eigenen Forschung war die anwesende Fachwelt überrascht: „Fast durchgehend sehen wir eine Liberalisierung und wachsende Toleranz der Gesellschaft“, stellte der Berliner Soziologe Steffen Mau fest. Nur ein Beispiel: Fast 84 Prozent finden, dass „Personen mit geändertem Geschlecht als normal anerkannt werden sollten“. Auch beim einstigen Aufregerthema Corona herrscht weithin Gelassenheit.
Die angeblich so tiefen Gräben zwischen verschiedenen Meinungen sind eher flache Mulden. Die Verlaufskurve zwischen zwei Sichtweisen zeigt nicht zwei Kamel-Buckel (die meisten neigen zu einem von zwei Extremen), sondern den Rücken eines Dromedars (die meisten sind irgendwo in der Mitte). Also ganz anders, als es die hitzigen Debatten in Talkshows und sozialen Netzwerken erscheinen lassen.
Die Mehrzahl der Befragten kannte Kampfbegriffe wie „Cancel Culture“ oder „queer“ gar nicht, oder sie waren ihnen herzlich egal. Ein sympathischer Verdacht, den ich auch bei Ihnen, liebe Leserinnen und Leser habe: Dass ich Sie gerade nicht korrekt als Leser*innen bezeichnet habe, ist Ihnen vermutlich – wurscht.
Werner Tiki Küstenmacher, geboren 1953, ist evangelischer Pfarrer im Ehrenamt, Karikaturist und Buchautor. Seit 1984 wohnt er mit seiner Frau, der Autorin Marion Küstenmacher, in Gröbenzell. Die beiden haben 3 Kinder und 2 Enkel.