Sex and crime
FOTOS Bauer Verlag . TEXT Christoph Bergmann
Georg Müller war Sohn eines Hirten, lebte als Tagelöhner in Hörbach bei Althegnenberg, arbeitete als Torfstecher im Haspelmoor und war später nach seiner Auswanderung einfacher Arbeiter in einer amerikanischen Brauerei. Und er hätte sich sicher nicht vorstellen können, dass anderthalb Jahrhunderte nach dieser Zeit ein anderer Hörbacher mal ein Buch über ihn schreiben würde. Aber er war eben auch Kopf einer damals berüchtigten kriminellen Organisation, die als „Rasso-Bande“ in die Geschichte eingehen sollte, und weckte so das Interesse von Heimatforscher Toni Drexler mit seinem Faible für bayerische Räuber des 19. Jahrhunderts. Und so kam der „Girgl“ zu einer 120 Seiten langen Biographie, die sein bewegtes Leben als „historische Erzählung“ rekonstruiert.
Drexler hat schon in seiner Zeit als Chef des Bauernhofmuseums Jexhof mit einer viel besuchten Ausstellung über das Thema den Nerv des Publikums getroffen. Outlaws von früher gehen immer und lassen sich heute zudem touristisch vermarkten. Aber auch zu ihren Lebzeiten waren einige der Diebe und Wilderer durchaus populär als anarchische Rebellen gegen eine ungeliebte Obrigkeit. Über Georg Müller, den „Schwobn-Girgl“, wie er nach seinem Haus-Namen in Hörbach genannt wurde, hat Drexler schon vor Jahren ein Buch geschrieben. Freilich eine trockene, wissenschaftliche Aufarbeitung der Fakten. „Das kann man nicht lesen“, sagt der Autor heute.
Sehr viel eingängiger ist da die neue Fassung, die den Girgl auch selbst zu Wort kommen lässt. In seinem lechrainischen Akzent, dieser kruden Mischung aus altbayerisch und schwäbisch, redet die Hauptfigur mit Frau und Freunden über Armut und Amerika. Manchmal gelingen poesievolle Bilder wie bei dem „von einer milden Herbstsonne vergoldeten Sonntag“ in Hörbach oder auch dem Mundharmonikaspieler am Mississippi, dessen Melodie vom „Stampfen und Platschen der Schaufelräder“ verschluckt wird. Der Phantasie werden aber auch keine Zügel gelassen, wenn etwa der Heimkehrer nach abenteuerlicher Flucht aus dem Gefängnis zuerst mit seiner Frau ins Bett geht.
Der Räuber und (versehentliche) Totschläger wird in der Nacherzählung durchaus mit Sympathie begleitet. Kein Sozialrebell, kein Robin Hood, aber ein gescheiter Kopf, der die elenden Verhältnisse, in denen er aufwuchs, nicht für gottgegeben hielt und sich eben selber zu helfen wusste. 1830 in Ried im Bezirk Dachau geboren, kam er mit seinem Vater – als Gemeindehüter auf der untersten sozialen Stufe einer Dorfgemeinschaft – unter anderem nach Hanshofen (heute Gemeinde Mittelstetten), einem „elendigen Nest bei Günzlhofen“, wie Girgl oder sein Ghostwriter finden. Mit 16 musste er als Torfstecher im Haspelmoor Geld verdienen, fand immerhin in Hörbach eine Frau und ein winziges Haus mit einem kleinen Stück Grund. Was ihn nicht hinderte, sich auch andernorts umzutun. Ein uneheliches Kind zeugte er mit einer Mittelstettenerin, mit einer anderen Frau aus diesem Ort hatte er offenbar ein längeres Verhältnis. Zu seinem eigenen Verhängnis, wie sich zeigen sollte: Sie war später Kronzeugin der Staatsanwaltschaft.
Der Gleisbau durch das Haspelmoor einige Jahre zuvor hatte zwar als technische Großtat gegolten. Die armen Hunde, die nun den Torf als Brennstoff für die neuen Stahlrösser ausgruben, merkten allerdings nichts von modernen Zeiten. Die Arbeit war hart, der Lohn wetterabhängig, die Unterkunft – oft in irgendwelchen Scheunen oder Stadeln der umliegenden Dörfer – lausig. Der Girgl hatte es mit seiner Einheirat in Hörbach zwar ein wenig besser getroffen, aber auch er wollte raus aus dieser Perspektivlosigkeit. Auswandern hieß damals die einzige Alternative, auf das gelobte Land jenseits des Atlantiks richtete sich die Hoffnung. Nur brauchte es für die teure Schiffspassage ausreichend Startkapital, das als Torfstecher und Hilfsarbeiter im Wald nie und nimmer zu gewinnen war.
Der Girgl stammte ohnehin aus einer Familie, die es mit dem Gesetz nicht so genau genommen hatte und als er einmal von einem Bauern in Oberlappach (heute Gemeinde Maisach) hörte, der in Bierlaune mit seinem Reichtum geprahlt hatte, war auch die Gelegenheit da, die Diebe macht. Mit dem Einbruch in den Neblmayer-Hof im September 1864 begann eine kurze, aber spektakuläre kriminelle Karriere. Nach und nach fand sich eine 19-köpfige Bande zusammen, die zwar getrennt operierte, aber gemeinsame Logistik benutzte. Es gab einen Experten, der Edelmetall einschmelzen konnte, den „Schmelz-Girgl“, und einen festen Abnehmerkreis von Hehlern. Ein richtiges kapitalistisches Unternehmensmodell sei da entstanden, urteilt Biograph Drexler: Akquirierung, Verarbeitung und Vertrieb: alles in einer Hand.
Fast monatlich schlugen die Täter im Raum Landsberg und Friedberg, im südlichen Dachau und westlichen Bruck zu. Ziele waren wohlhabende Bauern, aber vor allem Pfarrhäuser und Kirchen. Die Beute, auch wenn sich nicht jedes teure Messgewand und jede wertvolle Monstranz gleich zu Geld machen ließ, war teilweise erheblich. Dass die meist wohlgenährte Geistlichkeit ausgenommen wurde, mochte bei den einfachen Leuten sogar mit leichter Genugtuung registriert worden sein, aber im Januar 1867 machte die Bande einen entscheidenden Fehler, weil sie die dennoch tiefe Volksfrömmigkeit unterschätzte. Müller und Komplizen plünderten die Wallfahrtskirche in Grafrath und schleppten die zum leichteren Transport vorher auseinander gebrochenen Gebeine des heiligen Rasso, mit vermeintlich wertvollem Schmuck versehene Reliquien also, in Säcken ab. Diese Schändung wurde der „Rasso-Bande“, wie sie fortan hieß, nicht verziehen. 25 000 Gläubige wohnten einer dreitägigen Messfeier bei, als die wieder geborgenen Knochen des Rasso in seine Kirche heimkehrten. Es dauerte nur noch wenige Monate, bis die Täter aufflogen und festgenommen wurden. Der Girgl kam später ins Grübeln: Die ganze Sache habe wenig eingebracht, nur die ganze Bevölkerung aufgebracht, lässt ihn Drexler räsonieren.
Im März 1869 begann vor dem Schwurgericht in Augsburg der Prozess gegen 19 Angeklagte, die in vier Jahren über 50 große Einbrüche verübten und dabei Beute im Wert von über 10 000 Gulden gemacht hatten - nach heutiger Kaufkraft vielleicht 200 000 Euro. 160 Zeugen waren aufgeboten, die Verlesung der 129-seitigen Anklageschrift dauerte über zwei Stunden. Gemeinsame „communistische Anschauungen“ und teilweise auch „Liebesverhältnisse“ hätten die Bande zusammengehalten, glaubte der Staatsanwalt. Die Urteile lauteten schließlich auf drei Monate Haft für einen eher unbedeutenden Hehler bis zu 18 Jahren Zuchthaus für einen der Haupttäter.
Nur dem Chef der Bande konnte damals nicht der Prozess gemacht werden. Georg Müller hatte im Mai 1868 aus dem Gefängnis in München fliehen und sich nach Hörbach durchschlagen können. Am frühen Morgen, nach der Nacht mit seiner Frau, holte er seine versteckten Ersparnisse und reiste mit dem Zug zunächst nach Hamburg und von dort aus im Zwischendeck des Segeldampfers „Hammonia“ der Hamburg-Amerika-Linie nach Übersee. Der Mann, der vermutlich kein Wort Englisch sprach, verdingte sich zuerst in New York als Hafenarbeiter und zog dann weiter nach Milwaukee, der damals deutschesten Stadt der Vereinigten Staaten. Es gab sechs deutsche Zeitungen dort – und Biergärten: die „Munzinger Brewery“, in der er Anstellung fand, warb mit ihrem "Weiss Beer".
Noch bevor ein Jahr später in Abwesenheit vor dem Augsburger Gericht gegen Müller verhandelt wurde (und er dann zu überraschend nur 16 Jahren hinter Gittern verurteilt wurde), erhielt seine Frau eine Vollmacht für den Verkauf des Anwesens in Hörbach. Sie war von einem Notar in New York aufgesetzt und vom dortigen bayerischen Konsul bestätigt worden. Im September 1869 bestieg auch Ehefrau Maria in Hamburg ein Schiff – zusammen mit ihren vier Kindern, von denen der erst vier Monate alte Johann ganz offensichtlich einen anderen Vater hatte. Der Girgl hieß jetzt „George“ und hatte sich den Nachnamen „Betzinger“ zugelegt – einen Pass mit einem ähnlichen Namen hatte er einmal in einem Pfarrhaus in Dasing erbeutet. Die „Betzingers“ zogen in eine Kleinstadt am Mississippi, dort wurde die Familie bei der Volkszählung von 1870 registriert: Der George war demnach Arbeiter und besaß ein Häuschen am Stadtrand im Wert von 500 Dollar. Danach verliert sich seine Spur, im Adressbuch von 1876 taucht er bereits nicht mehr auf.
Aber vom ältesten Sohn gab es noch Nachrichten. Der hieß ebenfalls George, lebte als Waldarbeiter am Lake Michigan und hatte neun Kinder. Und von ihm gibt es sogar ein Foto im Büchlein, anders als vom Vater, dessen mögliches Aussehen ein Zeichner nach der Beschreibung aus dem Fahndungsaufruf zu rekonstruieren versuchte. George, der Jüngere, starb 1926 und damit hätte die Geschichte eigentlich enden können. Aber einen Redakteur des Bayerischen Rundfunks, der einen kleinen Abendschau-Beitrag über Drexlers Werk gemacht hatte, ließ die Sache nicht ruhen. Er recherchierte selbst in den Staaten und grub tatsächlich eine Ur-Ur-Ur-Enkelin aus. Und mit dieser Caroline ist jetzt auch Drexler im mail-Kontakt. Die Nachfahrin interessiert sich zwar für Familiengeschichte, wusste aber nichts von ihrem bayerischen Erbe. Jetzt will sie noch einmal Ahnenforschung betreiben.