Das Juwel
Sanft taucht der Herbst das Moor in seinen feuchten Morgenschleier. Ganz still, als würde er seinen Atem anhalten. Lautlos federn die Schritte auf dem weichen Boden. Nach Moosen und Erde schmeckt die Luft. Alles fühlt sich so vertraut an und doch wie in einer anderen Welt. In der die Zeit stehen bleibt. Als hätte jemand die Stopptaste gedrückt. Eingewoben in glitzernde Netze verharren die Gräser. Bizarr winden sich Stämme und Äste von knorrigen Kiefern, als hätten sie eben noch getanzt. Und wie gemalt spiegelt sich der Himmel auf der großen Wasseroberfläche. Das Haspelmoor ist faszinierend und geheimnisvoll zugleich. Erst See, zuletzt Fabrikgelände und Versuchsgut. Seit 1985 rund 185 Hektar des insgesamt etwa 370 Hektar großen Moorgebietes unter Schutz gestellt wurden, wird es mehr und mehr zu einem einzigartigen, farbenreichen Paradies für bedrohte Tier- und Pflanzenarten.
Die Augen von Toni Drexler leuchten. „Das Haspelmoor ist ein Juwel“, schwärmt der 73-jährige, ehemalige Kreisheimatpfleger, der das Moor und seine Geschichte kennt, wie kaum ein anderer. An seinem Rand, in Hörbach, ist er geboren. Hier ist er aufgewachsen. Das Moor war für ihn und seine Freunde in erster Linie ein Spielplatz. Der Weg von Hörbach nach Hattenhofen ein Abenteuer. Weil „auf der anderen Seite“ der Kramer bessere Zigarren hatte, wurde Toni Drexler alle 14 Tage zum Einkauf geschickt. Bei seinen einsamen Märschen über die noch nicht befestigten Wege und Pfade „habe ich zum ersten Mal bewusst gemerkt, was das hier für ein seltsamer Ort ist.“
Geologie, Archäologie, Historie, Alltag, Flora und Fauna. Das Leben der Bevölkerung sowie all die Künstler, die sich in vielfältiger Art von der einmaligen Stimmung des Moores inspirieren lassen: Der erwachsene Toni Drexler, Verwaltungsbeamter, Hobby-Archäologe, -Historiker und –Volkskundler recherchiert, forscht und sammelt 40 Jahre lang. Bis er beschließt, sein Wissen festzuhalten. Eine „Kleine Geschichte einer unscheinbaren Region“, soll es werden: Fast 300 Seiten sind es schließlich. Er zuckt mit den Schultern und lacht. „Sie ist halt doch ein bisschen größer geworden.“
Seine frühe Geschichte gibt das Moor durch Bodenuntersuchungen preis. Ende der Eiszeit vor 10 000 Jahren war hier ein riesiger See, an dessen Ufern sich im Mittelsteinalter (9600 bis 5500 v. Chr.) Jäger und Sammler niedergelassen haben. Toni Drexler selbst hat 1994 Überreste einer Basis-Handelsstation entdeckt. Noch heute und vor allem auf Luftbildaufnahmen gut sichtbar ist die jüngste Nutzung des Moores als Abbaugebiet von Torf. Sie beginnt exzessiv um 1838 mit dem Bau der ersten Eisenbahnstrecke von München nach Augsburg und endet in den 1980er Jahren, als das Haspelmoor unter den Schutz der Unteren Naturschutzbehörde gestellt wird.
Im Moor selbst muss man gut nach Spuren der Vergangenheit suchen. Verschwunden ist die Drehscheibe für die Loren, die sich an dem Einstieg ins Moor an der Verbindungsstraße befand. „Auf dem heutigen Pfad verliefen die Gleise der Torfbahn“, erzählt der Haspelmoorer Hans Lugmair, der als Kind ab und zu in der Lok mitfahren durfte. Nichts erinnert mehr an die großen Torfstadl und die riesige Fabrik mit ihren Nebengebäuden, in der Briketts zum Verfeuern gepresst und später Isoliermaterial für Eiskeller produziert wurde.
Stattdessen ist hier Natur pur. Innerhalb von wenigen Jahrzehnten nach jahrhundertelanger Ausbeutung kehrt sie mit all ihrer Schönheit und Vielfalt zurück. Und sogar eine Vielzahl seltener, gefährdeter und sogar vom Aussterben bedrohter Pflanzen, Insekten und Tiere ist dabei: wie der rundblättrige Sonnentau, Kreuzottern, Zwerglibellen, Zippammer. Hans Lugmair geht oft ins Moor, eine Lieblingstages- oder Jahreszeit gibt es für ihn nicht. „Alle sind schön“, sagt er und schwärmt vom Sonnenaufgang und -untergang, von blühenden Wollgräsern, den Farbenspielen des Herbstes, der Stille des Winters und wenn im Frühjahr die Schwertlilien das Moor in ein gelb leuchtendes Meer verwandeln.
Naturliebhaber und Fotografen zieht das Moor mit seinen lichten Kiefer-Birkenwäldern, dem dunklen See und den ständig wechselnden Farben magisch an. Während des „Lock downs“, erzählt Toni Drexler, war es sogar fast überlaufen und die Straße nach Hörbach zugestellt mit Fahrzeugen. „Dabei kann man wunderbar auch am Bahnhof parken und die wenigen Meter zum Einstieg laufen“, empfiehlt er. Es sei halt eine Crux: Auf der einen Seite sei es wichtig, die Menschen auf das Moor aufmerksam zu machen. Auf der anderen Seite soll natürlich kein Massentourismus in diesem höchst sensiblen Bereich entstehen. Das Moor abzuriegeln ist für ihn keine Lösung. Ein Bohlenweg, auf dem die Besucher auf dem 1,2 Kilometer langen Weg gezielt geführt werden, hingegen schon. Denn: „Man kann nur das schützen, was man schätzt“, sagt Toni Drexler und betont noch einmal: „Und das Haspelmoor ist ein Juwel.“
Die Geschichte des Moores in Kürze:
Vor 10 000 Jahren: See
9600 bis 5550 v. Chr.: Basis-Handelsstation für Jäger und Sammler, Hügelgräber sowie weitere Fundstücke in der näheren Umgebung belegen Siedlungen auch in den Folgezeiten – von der Bronzezeit, über die Kelten bis hin zu den Römern.
1791 – Kurfürst Karl Theodor von der Pfalz befiehlt die Urbarmachung des Moores
1828 – König Ludwig I plant einen Kanal für die Schifffahrt nach Augsburg, der auch durch das Moor führen soll.
1838/39 – Bau der Bahnstrecke durch das Haspelmoor
1840 – Die Bahnstrecke München-Augsburg wird in Betrieb genommen
1846 – Die staatliche Eisenbahnverwaltung pachtet große Teile zum Torfabbau
1853 – Einrichtung des Bahnhofs Haspelmoor
1854 – Aufbau einer großen industriellen Anlage und Produktion von Torfbriketts
1888 – Fabrik für Isolier-Mulle
1900 – Erweiterung der Fabrik / Einrichtung der „Königlich Bayerischen Moorkulturanstalt“(Moorversuchsgut)
1915: Kriegsgefangenenlager
1932 bis 1933: Arbeitsdienstlager
1936 – Reichsarbeitsdienst-Lager
1945 – Bombenangriffe
1984 – Bei einem Manöver versinken beinahe zwei Panzer
Seit 1985 – Naturschutzgebiet