Bedingungsloses JA zum Leben

Bedingungsloses JA zum Leben

Text: Petra Neumaier; Fotos: Simon Katzer

 

Ihre Farben sind die des Frühlings. Gerade im Winter. Kräftiges Türkis, sanftes Grün, sonniges Gelb, warmes Rot. Leicht wie Schmetterlingsflügel hüllen die bunten Kleider die zarte Figur von Bettina Kenter-Götte ein. Zerbrechlich wirkt sie und ist doch so stark, so zäh, so unbeugsam. Die Schauspielerin, die einst neben Romy Schneider, Inge Meysel und Willy Millowitsch auf der Bühne und vor der Kamera stand, spielte große Rollen, wurde als Autorin prämiert, lieh mindestens genauso vielen Stars ihre Stimme – und war dennoch viele Jahre in der Armutsfalle. Erst als alleinerziehende Mutter, während einer Branchenkrise und dann während einer Krankheit. Traumatische Zeiten, die sie mit vielen Kollegen und Alleinerziehenden teilt. Auch für sie schrieb die ehemalige Hartz IV-Bezieherin 2018 ein Buch, das deutschlandweit auf über 50 Lesungen, Veranstaltungen und im Fernsehen für Diskussionen sorgte. „Heart‘s Fear“!

 

„Hochlöbliche Schauspielerin“ steht auf dem Schild am rechten Türrahmen ihrer Wohnung in Germering. „Landesbefugter Journalist“ auf dem Gegenüber. In der Mitte der Tür hängt ein mit Blumen geschmücktes Herz. Bettina Kenter-Götte, ist angekommen. Räumlich und im Herzen. „Ich habe meine große Liebe gefunden“, sagt die Glückliche, die 2012 auf einer Diskussionsveranstaltung ihren Mann Karl-Wilhelm Götte kennenlernte. „So hatte am Ende Hartz IV doch noch etwas Gutes“, sagt sie mit einem sarkastischen Unterton. 

 

Ihr Rat an ihre Kollegen: Nichts persönlich nehmen. Es ist das System, nicht die Person. Außerdem: Gleich einen Rechtsbeistand suchen. „Gewerkschaften sind sehr zu empfehlen.“

Ihr Rat an ihre Kollegen: Nichts persönlich nehmen. Es ist das System, nicht die Person. Außerdem: Gleich einen Rechtsbeistand suchen. „Gewerkschaften sind sehr zu empfehlen.“

Es ist auch das einzige Mal, dass sie diese staatliche Hilfe im Zusammenhang mit einer positiven Vokabel benutzt. Die Jahre als Bezieherin von ALG II haben bei der selbständigen und vielseitigen Künstlerin tiefe Narben hinterlassen.

 

„Gestern Hype, heute Hartz IV – Prominent aber Pleite“

 

lautete 2013 die Dokumentation der Sendung „37 Grad“ über Bettina Kenter. 1951 wird sie als Tochter des Regisseurs Heinz Dietrich Kenter und der Schauspielerin Gertrud Jarand in Wiesbaden geboren. In Essen und schließlich Stuttgart wächst sie auf. Schon ein Jahr nach dem Abitur steht sie in Mailand für ihre erste Rolle auf der Bühne. 23-Jährig reist die talentierte Jungschauspielerin für ein knappes Jahr für eine internationale TV-Serie („Das neue Land“) nach Australien. Feste und freie Engagements namhafter Regisseure im In- und Ausland folgen. Bettina Kenter ist einer der Nachwuchsstars der 1970er Jahre.

 

Dann, mit 29 Jahren, wird sie schwanger. „Überraschungstochter“ nennt sie liebevoll ihr Kind. Doch alleinerziehend, ohne Betreuungsmöglichkeiten, kann sie ihren Beruf kaum noch ausüben. Sie beantragt Sozialhilfe, kommt drei Jahre lang mehr schlecht als recht um die Runden. „Erst jetzt, in der Krise“, sagt sie seufzend, „erkennt man, dass der Boden von Solo-Selbständigen sehr dünn ist.“

 

Weil ihre Tochter die größte Rolle spielt, macht Bettina Kenter eine Ausbildung zur Yogalehrerin, arbeitet unter anderem auf der MS-Europa und beginnt 1984 eine Karriere als Sprecherin, Regisseurin und Autorin für Synchron. Auch als die Branche 2002 nach der KirchMedia-Pleite in die Krise gerät, schafft es die Künstlerin, wieder auf eigene Beine zu kommen. Doch einige Jahre später wird sie schwer krank. Anspruch auf Arbeitslosengeld oder Krankengeld hat kaum ein Schauspieler; die Künstlersozialkasse nimmt „unständig Beschäftigte“ nicht auf.

 “Unständig Beschäftigte nimmt die Künstlersozialkasse nicht auf”

Fünf Jahre „on off“; ein Jahr Jobcenter; elf Bescheide, zehn Widersprüche, eine Sanktion, weil sie ein paar Tage zu früh einen Antrag abschickt: „Hartz IV bekämpft nicht die Armut, sie bekämpft die Armen!“, ist ihr Resümee, das sie nicht nur auf ihr…

Fünf Jahre „on off“; ein Jahr Jobcenter; elf Bescheide, zehn Widersprüche, eine Sanktion, weil sie ein paar Tage zu früh einen Antrag abschickt: „Hartz IV bekämpft nicht die Armut, sie bekämpft die Armen!“, ist ihr Resümee, das sie nicht nur auf ihre Person bezieht. „Es ist ein Problem in der Allgemeinheit.“ Eine Erkenntnis, die Bettina Kenter bewegt, 2010 ein Bühnenstück zu schreiben. Ein „Ein-Frau-Stück“ namens „Von Chancen und Schangsen, oder: Germania, quo vadis?“ Untertitel „Hartz-Grusical mit Hoffnungsschimmer“. Sie bekommt den 1. Stuttgarter Autorenpreis!

„Nach 35 Arbeitsjahren Hartz IV und Armentafel.“ Nach zwei Jahren Krankheit sind die Rücklagen aufgebraucht und es bleibt nur noch der Gang zum Jobcenter und zur Tafel, denn auch gerade die für Kulturschaffende so wichtige „Arbeitslosenhilfe“ ist abgeschafft. Ihre rheumatische Erkrankung und zwei Operationen verschonen sie zudem nicht von der Bürokratie. Im Krankenhaus liegend werden ihr zum Beispiel 70 Euro von der Mietzahlung gestrichen. „Ich hatte keine Kraft zu widerzusprechen“, sagt sie und zählt weitere Absurditäten auf, bei denen sie sogar hin und wieder den damaligen Bürgermeister von Puchheim, Herbert Kränzlein, und Freunde um Hilfe bitten muss. Ausreichend etwas zu essen, hat sie in dieser Zeit oft nicht.

 

Doch sie will raus aus den Mühlen des Jobcenters. Noch im Krankenhaus schreibt sie ein Buch über den Wellness-Wahn und dann, nach 25 Jahren Bühnenpause, spielt sie auch wieder Theater. Vor allem aber kämpft Bettina Kenter-Götte um ihre Würde und macht das Tabuthema Armut öffentlich. Der Stuttgarter Autorenpreis hatte sie ermutigt noch mehr an die Öffentlichkeit zu gehen. „Es wurde einfach Zeit, dass die Problematik ein Gesicht bekommt – und ich hatte nichts mehr zu verlieren“, sagt die nur 162 Zentimeter große und 49 Kilogramm leichtgewichtige Frau. 2015 heiraten sie. Erst mit und durch ihn kann sie sich endgültig von Hartz IV befreien.  „Das ist doch nicht zu fassen“, sagt Bettina Kenter-Götte und schüttelt ihren schönen Kopf, „dass noch immer viele Frauen letztlich nur durch Heirat abgesichert sind. Selbst wenn sie hohe Lebensleistung haben und privilegiert sind von Ausbildung, Herkunft und Beruf.“

 

Bettina Kenter-Götte hat ein Zuhause, macht jeden Tag eine Stunde Yoga, bekommt eine für Frauen relativ hohe Rente und könnte sagen, dass sie alles nichts mehr angeht. Stattdessen schreibt und veröffentlicht sie 2018 das Buch „Heart's Fear. Hartz IV. Geschichten von Armut und Ausgrenzung“. Die Suche nach einem Verlag, der sich an ein solch heikles Thema traut, ist schwer. Schließlich aber in der „linken Ecke“ gefunden. Bettina Kenter-Götte, die bis zum „Shutdown“ zu über 50 Lesungen – darunter auch im Bundestag –  eingeladen wurde, betont: „Ich bin nirgendwo zu verorten und lasse mich vor keinen Karren spannen, weil ich immer nur meine eigene Position vertrete. Heißt: Ich bin in keiner Partei Mitglied.“

 

„Aber Hartz IV ist ein Armuts- und Ausgrenzungsgesetz. Dazu konnte ich nicht schweigen. Und jetzt betrifft es ja auch die ganze Kulturbranche.“

 

Seit den Covid-bedingten Absagen kultureller Veranstaltungen steht das Telefon kaum still. Weinende, verzweifelte Kollegen suchen Trost, fragen sie um Rat. Bettina Kenter-Götte hört zu, berät, versucht zu trösten. Wie in einem Déjà-vu taucht dann aber auch ihre eigene Vergangenheit auf. Dann zieht sie sich zurück, in ihr türkisfarbenes Zimmer, mit der Kuschelecke und dem Sternenhimmel.

 

„Kulturschaffende sind eine sehr zähe Spezies“, sagt Bettina Kenter-Götte und ist der beste Beweis. „Wir sind Unsicherheit gewohnt.“ Letztendlich seien es Momente der Verzweiflung und Fassungslosigkeit gewesen, die sie neue Wege suchen und finden ließen. „Vielleicht lag es aber auch an meinen hugenottischen Genen“, mutmaßt sie und lacht fröhlich. „Mein Ja zum Leben ist bedingungslos.“

 

 

Theater: Feste Engagements und Gastspiele an Nationalen und Internationalen Bühnen (darunter Piccolo Teatro Mailand bei Giorgio Strehler und Teatro Avenida, Maputo, Mosambik bei Henning Mankell)

Fernsehen: Über 20 Fernsehrollen, darunter eine TV-Serie mit Regisseur Peter Weir in Australien

Uber 200 Synchronrollen in Kino- und Spielfilmen und in Serien wie „Reich und Schön“ und „Law and Order“

Regisseurin und Autorin für Synchron (u.a. Timm Thaler, Zeichentrick, Goldener Spatz der ARD 2002)

Freie Autorin (Kurzgeschichten, CDs, Sachbücher und Bühnenstücke): Förderpreis der Luzerner Literaturförderung, Erika-Mitterer-Lyrikpreis, Stuttgarter Autorenpreis 2011 für „Hartz-Grusical“

 

Seit 2015 lebt Bettina Kenter-Götte in Germering. In ihrer Freizeit geht sie gerne in die Berge auf moderaten Wegen. Oder macht Ausflüge in die Umgebung. Opernvorstellungen im Kino – am liebsten in Gröbenzell. Mit ihrem Mann Karl-Wilhelm Götte tanzt sie Standard und Latein im TSV Germering. Und sie liebt alle Seen im Landkreis: „Es ist ideal hier zu wohnen“, sagt die Lebensfrohe und strahlt. „Alles ist ganz nah, die Berge, Felder, die Wälder und Seen. Ich würde nie wo anders wohnen wollen.“

 

„Heart's Fear - Hartz IV - Geschichten von Armut und Ausgrenzung“, Verlag Neuer Weg 2018, Taschenbuch ISBN: 978-3-88021-494-1; eBook ISBN: 978-3-88021-495-8

 

 

 

Menschem im Landkreis

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