Abenteuer Fürstenfeld
Text: Petra Neumaier, Foto und Repros: Corinna Eichberger-Renneisen
Alle zwei Jahre treffen sie sich – Männer und Frauen, die eines gemeinsam haben: Sie wuchsen in Fürstenfeld auf. Früher, erzählt Klaus Heinsius, waren sie rund 100, jetzt sind es nur noch 50 bis 60. „Es wächst ja nichts nach“, sagt der 80-Jährige. Er selbst verbrachte seine Jugend auf dem Klosterareal. Eine Zeit, die in den Erinnerungen so lebendig ist, als wäre sie erst gestern gewesen. „So eine Zeit gibt es nie wieder“, schwärmt der ehemalige „Bürgermeistersohn“ von Fürstenfeld mit glänzenden Augen.
Die Freiheit, der Zusammenhalt, die Abenteuer: Klaus Heinsius wird nicht müde davon zu erzählen. 1952 zieht er im Alter von zwölf Jahren mit seinen Eltern und den beiden Geschwistern in den zweiten Stock des Eckhauses „Fürstenfeld 4“ (heute 8). Der Vater, einst Luftwaffenoffizier, ist Verwalter der Klostersäge.
Das gesamte Areal ist eine große Gemeinschaft, in der jeder jeden kennt. Und ein völlig autarker Ort. Neben dem Sägewerk gibt es einen Schuster, eine Kelterei, eine Schreinerei, eine Seilerei, eine Schmiede, eine Wagnerei, eine Gärtnerei und sogar einen Friseur, der für 75 Pfennige die Haare schneidet. Kleine Fabriken (Papierblumen, Chemie und Pelztierfarm) sind auch vor Ort. Den Strom liefert das eigene Elektrizitätswerk, das Wasser kommt aus der eigenen Quelle. Sogar einen kleinen Lebensmittelladen gibt es und das „Klosterstüberl“, in dem sich das gesellschaftliche Leben abspielt. „Die Wirtin war ein Unikum, die immer Späße machte“, erinnert sich der Rentner. Auch treffen sich hier die Lehrkräfte der Polizeischule sowie der Stammtisch, dem der Vater als „Bürgermeister“ vorsteht.
Für die Kinder und Jugendlichen ist Fürstenfeld ein einzigartiger und riesiger Abenteuerspielplatz. Klaus Heinsius lacht. Klar kennt er jeden Winkel – auch in der Klosterkirche und von der Gruft bis zu den Türmen. Kein „Geheimgang“ bleibt ihm als Jugendlicher verborgen, keiner der damals noch zahlreichen Badeplätze an den Kanälen und Nebenarmen der Amper ungenutzt. „Weil hier alles übersichtlich war, hatten wir alle Freiheiten“, erzählt er. Das Vertrauen der Erwachsenen zu den Kindern ist zudem groß. Mit dem Holzfloß des Sägewerks dürfen sie zum Stausee paddeln, die Schlüssel zum Kirchturm oder der Jägerhütte ausleihen für Erkundungen und Feiern.
In der Brucker Holzwerkstätte verdient Klaus Heinsius mit 15 Jahren sein erstes Geld: 50 Pfennige pro Stunde bekommt er für das Polieren von Ladentischen. Zu tun gibt es immer in Fürstenfeld. Größter Arbeitgeber ist die Kunstblumenfabrik: Neben den 20 Festangestellten falten rund 200 Frauen in Fürstenfeldbruck in Heimarbeit die hübschen Dekorationen. „Es gehörte zum Stadtbild, dass sie große Kartons mit dem Radl oder Leiterwagen durch die Straßen transportierten.“ In Erinnerung bleibt auch ein ungewöhnlicher Auftrag der Schreinerei: Die Fertigung von Kamelhockern, bei der ebenfalls einige Fürstenfelder helfen.
Einmal wird Klaus Heinsius auch von dem schwerhörigen Orgelbauer, der sich um die Fux-Orgel des Klosters kümmert, beauftragt Tasten anzuschlagen, während der Fachmann in dem monströsen Gerät verschwindet. Da der Junge keine Noten kennt, wird er jedoch schnell entlassen. Besser verhält es sich mit dem Läuten der Abendglocke per Seilzug – „wobei ich in den dunklen Wintermonaten nie die Tür zur Gruft aus den Augen ließ“, sagt er lachend.
Geben und Nehmen – „In Fürstenfeld war das ganz normal“, sagt Klaus Heinsius wehmütig. „Alle waren hier gleich, weil alle das Wenige miteinander teilten.“ Nur einmal kommt „so etwas wie“ Neid auf. Er schmunzelt. Schuld daran ist der Fernseher. Den ersten hat der Schmid. ein Schwarzweiß-Gerät mit einem Programm, das von 18 bis 22 Uhr gesendet wird. Kurz darauf schafft sich auch das Klosterstüberl einen an. Eine Mark kostet eine halbe Stunde am Fernsehautomat. Heinsius erinnert sich an das verraucht-neblige Nebenzimmer, in dem überwiegend die Bereitschaftspolizisten sitzen. „Wir Kinder durften hinten sitzen. Ging der Fernseher aus, begann stets eine lange Diskussion darüber, wer mit Zahlen dran war.“ Der dritte Fernseher hält beim Elektriker Einzug. „Der Empfang war hier allerdings recht schlecht (wegen der Kirchenfassade) und nur bei gutem Wetter war das Bild einigermaßen sichtbar“, erzählt Klaus Heinsius und seufzt.
Denn mit der guten alten Zeit sind auch unzählige schöne Dinge verschwunden. Wie das Schusterhäusel, das Gutsverwalterhaus, viel Inventar und das herrliche Eisentor zum Obstgarten. Was bleibt sind Erinnerungen, die in dem Fürstenfelder und seinen Kameraden tief verankert sind. Und die seit 40 Jahren beim Fürstenfeldertreffen immer wieder aufleben dürfen.
In Memoriam – Kurze Erinnerungen an Fürstenfeld von Klaus Heinsius
- Im Klostergut, das über 70 Milchkühe und 130 Schweine hatte, holten sich die Brucker mit Kannen ihre Milch. In der Früh brachte der Kutscher mit seinen Apfelschimmeln die Milch zur Molkerei. Ein merkwürdiger Mann, der stets auf dem Kutscherbock einschlief und eines Tages deshalb auch hinunterfiel. Besonders tragisch war, dass er von seinen geliebten Pferden überfahren wurde.
- Der Schmied war überall bekannt – wegen seiner Hilfsbereitschaft und weil er stets mit einem bestimmten Schlag-Rhythmus auf den Amboss seiner Frau ankündigte, dass er gleich zum Mittagessen kommt. Als Stromableserin war sie übrigens quasi die Zeitung auf zwei Beinen.
- Neben dem Schusterhäusl, wo heute der Spielplatz ist, hatte ein Orthopäde seine Werkstatt. Dass er arbeitet habe ich nie gesehen. Eigentlich stand er nur vor dem Haus und hat sich unterhalten.
- Die Kelterei, rechts vom Kloster, war ein großes Thema in Fürstenfeld. Wenn die Landwirte der Umgebung ihr Obst ablieferten und daraus Johannisbeeren-Süßmost und auch Obstweine abgefüllt wurden, war hier ein ständiges Kommen und Gehen. Über einen unterirdischen Gang konnte man sogar in den Keller gelangen. Einmal entdeckten wir einen Diebstahl und meldeten ihn der Polizeiwache – später stellte sich heraus, dass die Polizisten die Diebe waren.
- Den Müller in der Klostermühle vergesse ich nie. Ein hünenhafter Kerl, der mit einer Hand einen Mehlsack heben konnte und sogar für die Olympiade in Berlin 1936 im Gewichtheben nominiert gewesen war. Aus Eifersucht ließ ihn aber seine Frau nicht teilnehmen.
- Das THW-Rettungsboot durften wir uns oft ausleihen. Weil ich den Wirt des Klosterstüberls damit auch gelegentlich zum Angeln auf den Stausee ruderte, gab er uns im Gegenzug Tisch und Stühle, auf denen wir auf einer Sandbank im Stausee Schafkopfen konnten. Inklusive Bier.
- Das Klosterbad war noch in der 1930er Jahren vorhanden. Die Hütten waren die Umkleidekabinen für die Mönche. Oft war er hingegen im Polizeibad und unter einer Schleuse beim Sägewerk. Unter dem Wasserfall konnte man stehen und unbemerkt auch mal ein Mädchen küssen“, erzählt er mit einem verschmitzten Lächeln.