Das Entfernungswunder

Das Entfernungswunder

Von Fürstenfeldbruck aus gesehen ist es der Osten, von München aus der Westen: Gröbenzell, Germering, Puchheim, Olching und all die riesigen Wohngebiete vor den Toren der Landeshauptstadt. Sie alle vereint ein außergewöhnliches geografisches Phänomen: Ähnlich wie bei Herrn Turtur, dem Scheinriesen aus „Jim Knopf“, ändert sich ihre Entfernung – je nachdem, von wo aus man sie betrachtet.

 

Ich kenne die wunderliche Naturerscheinung aus beiden Richtungen. Geboren in München-Schwabing und aufgewachsen in Mittersendling, waren die Wohngebiete außerhalb der Stadtgrenzen für mich entlegene Gegenden irgendwo da draußen. Ich kannte sie höchstens von den Autos mit merkwürdigen mehrbuchstabigen Kennzeichen wie FFB, die sich auf die breiten Avenues der Weltstadt wagten.

 

Als ich in München evangelische Theologie studierte und an einem Seminar des Alttestamentlers Jörg Jeremias teilnahm, lud uns der Herr Professor zu einem akademischen Abend in sein Haus ein. In Gröbenzell. Gröben was? Ein älterer Kommilitone nickte wissend und nahm uns im Auto mit. Eine abenteuerliche Fahrt in den Wilden Westen. Hinter einem Nest mit dem bezeichnenden Namen Lochhausen wurde die Straße so schmal, dass dahinter nur das Ende der Zivilisation liegen konnte. Im Scheinwerferkegel erkannte ich allerdings eine beeindruckende Reihe Autowerkstätten am Ortseingang. Es gab hier also noch Technologie, aber das Haus des Professors lag nach meinem Empfinden tief im Wald.

 

Irgendwann zog ich selbst dorthin und erlebte das Wandlungswunder am eigenen Leib: Von Gröbenzell nach München ist es nur ein Katzensprung! Auf schnurgerader Strecke wurde ich von der S-Bahn mitten ins Herz der Metropole katapultiert. Von Mittersendling in die Münchner City dagegen, das war ein verschlungener Trip mit Tram, Bus und U-Bahn, oder via stop-and-go auf dem Mittleren Ring. Aber jetzt: zack, drin! Das Entfernungsproblem schien überwunden.

 

Bis wir eine alte Freundin aus Schwabing eingeladen haben, mal zu uns „raus“ zu kommen. Sie reagierte irritiert. Nur weil wir umgezogen sind, soll sie zu einer Fernreise aufbrechen? Ha, es war offenbar noch da, das Distanzmirakel. Erst nach vielen Monaten und zahllosen Telefonaten gelang es uns, die Altmünchnerin zu einer S-Bahn-Reise zu bewegen. Als sie eintraf, wirkte sie ehrlich erschöpft, gerädert von der Vielzahl neuer Erfahrungen. Am schlimmsten war wohl ihre Erstbegegnung mit dem mysteriösen Außentarifsystem des MVV. Verstört durch die arkanen Grafiken am Bahnsteig (eine mit Ringen, eine mit Zonen) löste sie nur dank des Beistands hilfreicher Mitreisender endlich die richtige Fahrkarte und betrat eine leibhaftige S-Bahn.

 

Wir bekommen bis heute Besuch aus ganz Deutschland, ja der ganzen Welt. Nur von Münchner Freunden nicht. Zu denen fahren wir. Ist ja nur ein Katzensprung.

Werner Tiki Küstenmacher ist evangelischer Pfarrer im Ehrenamt, Karikaturist, Buchautor und wohnt mit seiner Frau, der Autorin Marion Küstenmacher, in Gröbenzell.

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