Läuten bis das Unheil flieht

Läuten bis das Unheil flieht

Schwarz kündigt es sich an. Der Wind braust auf, treibt den Duft von Regen vor sich her. Als die ersten Blitze den dunklen Himmel erhellen, schaut Marianne Thurner von ihrer Arbeit in der Küche auf und eilt hinaus. Über den Hof, durch das Tor. Die Stufen hinauf. Dicke Tropfen fallen. Dann hat sie die kleine Kapelle erreicht. Das Seil hängt griffbereit. Hell erklingt die kleine Glocke, als sie daran zieht. Wieder und wieder, während die Blitze um die tapfere Frau herum leuchten, Donner brüllen und der Regen prasselt. Unbeirrt läutet Marianne Thurner weiter, wie schon viele Generationen vor ihr. Bis die Donner verhallen. Die 65-Jährige, die seit 40 Jahren in alter Tradition Unwetter mit dem Läuten der Glocke auf dem Kalvarienberg in Wenigmünchen vertreibt, atmet auf. 

Die Idylle, die ländliche Ruhe und die hügelige Landschaft um die kleine Ortschaft, erden. Und lassen nachvollziehen, weshalb sich schon vor über 1000 Jahren die ersten Siedler hier niederließen. Auf dem höchsten Punkt des Ortes, vermutlich auf den Fundamenten eines mittelalterlichen Burgstalles ließ 1740 Pfarrer Josef Wenig den Kalvarienberg mit seiner kleinen Kapelle errichten. Umsäumt von Kreuzwegstationen – kleine Häuschen, hinter deren Läden sich die Leidensgeschichte auf Holzbohlen gemalt versteckt und flankiert von einer lebensgroßen Steingruppe: die Kreuzigung.

Der Kalvarienberg Wenigmünchen war eine Zwischenstation für Wallfahrer zum Kloster Andechs. Vor allem bei Pilgern mit Zahnschmerzen kamen hier gern vorbei. Da die Kapelle der Zahnpatronin Apollonia geweiht ist, zogen sie mit den Zähnen das Glockenseil. Aber irgendwann geriet die Anlage in Vergessenheit. Kinder nutzten sie als Spielplatz, Figuren wurden beschädigt. Die Stationen verwitterten. Erst 1978 wurde der komplette Kalvarienberg generalsaniert. Die Figuren, einst bunt bemalt, blieben grau.

Heute ist der Kalvarienberg, der 2016 sogar vom BR dokumentiert wurde, wieder Anziehungspunkt für überwiegend kirchliche Reisegruppen und Radlausflügler. Marianne Thurner schmückt dann die Nischen des Christusgrabes in der Kapelle, stellt Kerzen auf, ihr Mann Peter hilft. Seit vier Jahrzehnten hegen und pflegen die beiden die Anlage, schieben Schneeschaufeln und Rasenmäher über den steilen Hang, schaffen so kubikmeterweise Laub und Grasschnitt per Schubkarren weg. Seit vier Jahrzehnten passen sie auf, schließen an den Wochenenden und an Feiertagen frühmorgens die Stationstürchen auf und abends wieder zu. Urlaub? Die beiden schütteln den Kopf. Ihren Kalvarienberg lassen sie nicht gerne allein.

Eine außergewöhnliche Aufgabe ist aber das Läuten, wenn Unwetter aufzieht. Zweimal, so ist es überliefert, wurde nicht „geläutet“, da hat es eingeschlagen. Einmal jagte sogar ein Kugelblitz durch eine Straße und zerlegte eine alte Eiche. Schreckliche Schäden wurden verursacht. Ob man nun daran glauben mag oder nicht: Marianne Thurner läutet – und auch die Nachbarn warten darauf. „Manche rufen sogar an, wenn sie fürchten, ich käme zu spät“, sagt sie stolz.

Gut verborgen ist das Glöckchen in seinem Turm. Marianne Thurner blickt hinauf und seufzt. Inständig wartet sie auf die schon seit Jahren anstehende Sanierung der Kapelle. Nicht nur, weil sie nötig ist, sondern weil sie hofft, dass sich dann ihr größter Wunsch erfüllt. „Wenigstens einmal in meinem Leben möchte ich das Glöckchen sehen“. Petra Neumaier

  

Einmal hatte sich das Glöckchen beim Läuten verhängt. Der Schreck war groß. „`s wär das Schlimmste, wenn i nicht mehr läuten kannt“, sagt Marianne Thurner. Besonders schön anzuschauen ist die Kinderkreuzfahrt an Karfreitag auf dem Kalvarienberg.

 

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