Der große Blonde mit dem schnellen Schulterwurf
Fotos: Simon Katzer, Text: Petra Neumaier
Lausbuben-Lächeln und tiefes Kirk-Douglas-Grübchen am Kinn: Paul Barth ist sofort wiederzuerkennen. Auch, wenn seit seiner Olympia-Teilnahme in München ein halbes Jahrhundert verstrichen ist. Am 1. September 1972 erkämpfte sich der zugezogene Gröbenzeller mit den wuscheligen blonden Haaren im Judo-Halbschwergewicht die Bronze-Medaille. Ein triumphaler Höhepunkt für den Bankangestellten, der vier Tage später mit seinen Mannschaftskollegen in der Olympia-Unterkunft festsaß. Acht palästinensische Attentäter hatten elf israelische Sportler als Geiseln genommen, keiner überlebte. „Plötzlich war die Medaille nur ein Stück Blech“, sagt Paul Barth.
Ruhig ist es in der Straße mit den hübschen Einfamilienhäusern. Nur ein Frosch quakt (in dem kleinen Teich von Paul Barth, wie sich gleich herausstellen wird). Die Schweizer Landesflagge ist gehisst. „Wenn Besuch kommt, hängen wir sie immer auf“, begrüßt Paul Barth, der seit 51 Jahren mit einer Schweizerin („meine Evi“) verheiratet ist. Büsche und Blumen stehen im Garten des ehemaligen Leistungssportlers in voller Blüte: „Garteln“, sagt er, während er ums Haus herum auf die sonnige Terrasse führt, „ist mein Hobby“. Eines von vielen. Mit seiner Evi joggen und tägliche Gymnastik, damit hält sich der bald 77-Jährige fit. 50 Liegestützen am Stück kriegt er noch locker hin, „früher waren es 120“, sagt er und wirft sich auf den Rasen, um zu beweisen. Athletisch die Füße auf der Bank, stemmt er sich in die Höhe. 12, 13, 14 … Passt schon, lieber Herr Barth. Er grinst.
Aufgewachsen ist Paul Barth in Großhadern als Sohn eines Polizisten. Hier spielt der schlaksige Blonde mit den blauen Augen Handball. Als er jedoch bei den Pfadfindern von ein paar Judoka-Jungs aufs Kreuz gelegt wird, ist sein Kampfgeist geweckt. „Das will ich auch können!“, beschließt er, zumal ihm auch seine ältere Schwester bei Rangeleien überlegen ist. Paul Barth ist da bereits 16 Jahre alt – aber ehrgeizig. Und er hat Talent. Und er ist schnell und wendig. Und er hat Spaß. Im Verein Großhadern trifft er auf Gerd Egger, mehrfacher internationaler und deutscher Meister im Judo, dem er seinen internationalen Durchbruch verdanken wird. 1968 ist das bei der EM in Lausanne. Das Leichtgewicht belegt den 3. Platz.
Irmi Egger, die Frau seines Trainigspartners, füttert ihn durch. Mit etwas mehr auf den Knochen steigt Paul Barth ins Halbschwergewicht auf (die Mittelgewichtsklasse überspringt er einfach) und ist mit gerade mal so 83 Kilogramm auf 1,80 Metern Körpergröße an der untersten Grenze. Trotzdem nimmt er es viel schwereren Gegnern auf. „Ich hab niemanden geforchten“, sagt er und lacht sein schelmisches Lachen.
Kurze Erzählpause. Im Keller sucht und findet Paul Barth eine weiße Judojacke: EM 1986 steht neben dem Bundesadler. Mit dem rot-weißen Gürtel bindet er sie zu. Zeichen für den 8. Dan. Ab dem sechsten Gürtel musste er nicht mehr darum kämpfen, ab da werden die Gürtel als Ehrentitel verliehen. „Den zehnten kriegst du erst, wenn du kurz vorm Sterben bist“, sagt Paul Barth, der 2017 tatsächlich kurz davor war. Bei der Besteigung des Vesuvs erleidet er einen Herzinfarkt. Fünf Monate liegt er im Koma, muss danach alles wieder lernen „Ich habe immer einen Engel an meiner Seite“, sagt Paul Barth und meint damit auch seine Evi.
Vor den Olympischen Spielen lernen sie sich in der Schweiz kennen. Paul Barth ist dort im Trainingslager mit dem damaligen Bundestrainer Han Hano San und hüpft jeden Tag hechelnd steile Berge hinauf. „Beim Judo braucht man viel Kraft.“ Trotz der Anstrengung schafft der unbekümmerte Spaßvogel es, sich abends mit den Kameraden zum Tanzen davonzuschleichen. Dort trifft er auf die hübsche blonde Evi, die eigentlich schon verlobt ist. Seine sportliche Ausdauer bewährt sich auch hier: Jeden Tag steht er vor ihrer Tür, bis sie einlenkt und ihm nach Deutschland folgt. Am 30. Dezember 1971 heiraten sie in Neufahrn und ziehen nach Gröbenzell.
Judo ist zwar bereits seit 1964 olympische Disziplin, aber erst 1972 fester Bestandteil der Spiele. Paul Barth ist eigentlich nicht dafür vorgesehen: Peter Herrmann sollte antreten. Überraschend wird jedoch der 26-Jährige ausgewählt. Es sind keine einfachen Kämpfe gegen die gewichtigeren Gegner. Aber spannende, bei denen die ganze Nation mit dem hübschen Blonden mitfiebert. Mit seinem „Pauli Spezial“, einer Schulterwurftechnik, streckt er vier Gegner nieder. Am 1. September muss er sich jedoch dem russischen Gegner geschlagen geben. Schota Tschotschischwili war zwölf Zentimeter größer und zehn Kilogramm schwerer – sein Kontrahent argwöhnte, – „der war gedopt!“ Paul Barth spürt genau, ob jemand einfach nur stark ist oder künstlich gestärkt wurde. Ärgern tut er sich deshalb trotzdem nicht. Als Sieger wird er gefeiert, Franz Josef Strauß lädt ihn zum Essen auf dem Olympiaturm ein (eine Verabredung, von der sich das Landesoberhaupt später mit einer Flasche Krimsekt „freikaufte“). Das Siegerfoto im hellblauen National-Trainingsanzug, die Medaille um den Hals, das stolze Lächeln und die Grübchen: wer aus der Generation 1960-Plus kennt es nicht.
Als am 5. September das friedliche Miteinander der Spiele ein jähes Ende findet, wohnt Paul Barth schon nicht mehr im Olympischen Dorf. Um seine Kameraden zu unterstützen, kommt er jedoch auch an jenem Morgen um sieben Uhr zum Frühstück. Ohne Probleme erreicht er die Unterkunft, und erst als dort alle vor dem Fernseher sitzen sieht, erfährt er von der Geiselnahme. „Das war ein Schock!“ In Sichtweite ist die Unterkunft der israelischen Sportler, die Blicke wandern wie die entsetzten Fragen hin und her. Paul Barth muss in der Unterkunft bleiben. Stunden des Wartens, Stunden der Angst um die Geiseln. Der gescheiterte Versuch der Befreiung auf dem Militärflughafen in Fürstenfeldbruck, bei dem alle Geiseln sowie Terroristen und Polizisten getötet werden, ist ein unvorstellbares Drama, das alles andere in den Schatten treten lässt. Auch den Gewinn der Medaille. „Was ist schon so ein Stück Blech, wenn gerade unschuldige Menschen gestorben sind.“
Die Medaille liegt schwer in der Hand. Er hält sie in Ehren, wie die vielen anderen, die in der Vitrine im Wohnzimmer aufgehängt sind. Letztendlich sind aber auch sie nur Erinnerung an eine Vergangenheit, die von der Gegenwart abgelöst wird. Paul Barth kommt noch eine Weile in der Welt herum. Mexiko, Südafrika, Frankreich, Russland, allein viermal war er in seiner sportlichen Laufbahn in Japan, der Heimat des Judo und in Südkorea, der Heimat seines hervorragenden Trainers Han Hano San: Er versteht sich mit den japanischen Sportlern „super“, ein bisschen spricht er auch im Laufe der Jahre ihre Sprache ein wenig. Abends, im Bett, lernt Paul Barth, der Sport als völkerverbindendes Element und nicht als ein konkurrierendes versteht, fleißig ihre Vokabeln.
Schon vor Olympia hatte der Bankkaufmann beschlossen, dass danach Schluss mit dem Profisport ist. 1975 ist es endgültig soweit. Nur noch nebenbei trainiert er, sein letzter Kampf: Bayern gegen die Schweiz. Bereits 1973 hat er in Gröbenzell die Judoabteilung gegründet. Hier trainiert er selbst und andere. Und noch heute steht er an der Matte, gibt Tipps. Und strahlt vor Stolz. Vor allem die Damen sind stark – „ganz tolle Talente“.
Und wenn nicht hier, dann ist Paul Barth überall und nirgends anzutreffen. Beim Wandern, Tennisspielen und Radeln mit seiner Frau, beim Besuch des Sohnes und den beiden Enkeln in Österreich. Oder, seit 2017, beim Sammeln von Artefakten der Olympischen Spiele 1972. Gegenstände, Kleidung, Sportgeräte, Fotos, Filme – vor allem für die neue Abteilung des Münchner Stadtmuseums, die zum Jubiläum eröffnet wird. „München war Olympiastadt, da gehört alles hin.“
Außerdem ist da ja noch der Sportstammtisch, der sich nach den Spielen 1972 gegründet hat. Ein lustiger Haufen ehemaliger Sportgrößen, die sich regelmäßig treffen, zum Ratschen und zum Antreten bei Turnieren in anderen Sportarten. „Es ist wichtig, dass Alle alle Sportarten kennen, wenn sie beim Stammtisch beisammen sitzen“, sagt Paul Barth und lacht. Bobfahren, Fußball, Tennis. Eishockey, Ski, Zehnkampf: alles und noch viel mehr war dabei. Die Sport-Promis von einst sind eine richtige Familie.
Paul Barth, der seine Gegner fest im Griff hatte, kann loslassen. Auch seine eigenen Erinnerungen, die nicht immer gut und sogar fürchterlich waren. Wie der Tod seines zweiten Sohnes. „Das Leben war schon manchmal eine Herausforderung“, sagt er dann mit einem Seufzer, „aber die Eltern hatten es noch schwerer im Krieg.“ Dann lässt er die Schwere der Gedanken los. Lehnt sich in seinen Sessel zurück, den Blick durch das Glas seines Wintergartens in das üppige Grün gerichtet. Wo die Vegetation blüht und der Frosch quakt. „Ich habe solches Glück mit meinem Leben“, sagt er dann und sein Gesicht strahlt wie 1972 auf dem Siegerpodest.
Steckbrief Paul Barth
20. September 1945 in Großhadern geboren
1962 Beginn des Judo-Sports
1966 Sieg beim ersten Internationalen Turnier in Lille
1968 EM Lausanne Bronze
Zweimal deutscher Mannschaftsmeister mit dem TSV München Großhadern
1969 und 1971 5. Plätze bei den Weltmeisterschaften in Mexiko und Ludwigshafen und
1. Platz Europaturnier Linz
1972 3. Platz bei den Olympischen Spielen und Auszeichnung vom Bundespräsidenten mit dem Silbernen Lorbeerblatt
1973 1. Platz Deutsche Meisterschaft
1973 3. Platz Europameisterschaft in Barcelona
2011: Ernennung zum neuen Präsidenten des BJV
2018: Verleihung der Fördermedaille des 1. Judo-Weltmuseums
Oktober 2021: Ernennung zum Ehrenmitglied des Bayerischen Judo-Verbandes
BUCH: Judo für Jugendliche (zusammen mit Ulrich Kaiser)