Ziemlich bestes Leben
Fotos: Simon Katzer, Text: Petra Neumaier
Die Haustür ist ein Aufzug. Vier oder fünf Stufen rattert er hinauf, bevor er sich öffnet. Ein breiter Gang, Kunstfotografien an den Wänden. Das Bett steht im Wohnzimmer. Gegenüber hängt ein großer Fernseher über dem Regal mit hunderten von DVDs. Die Leinwand für den Beamer ist an der Decke aufgerollt und gibt den Blick frei in den Garten – Claus Hummelsheim war schon ewig nicht mehr dort. Verteilt in dem nicht allzu großen Raum, auf dem Boden, oben und an den Seiten, sind acht große Lautsprecherboxen. Der 55-Jährige mag es, Musik laut zu hören, die Wände zum Wummern zu bringen. Sein Wohnzimmer ist dann ein Konzertsaal – oder ein Kino, ganz wie er mag. Und wann er mag. Und er mag oft. „Die Nachbarn sind taub oder sagen nichts“, sagt er mit seinem spitzbübischen Lächeln und freut sich über dieses Stückchen Freiheit.
Die Sprachsteuerung ist heute etwas langsam. Licht ausschalten, Licht anschalten, Rollläden hoch oder runter. Claus Hummelsheim verdreht die Augen. „Eigentlich funktioniert sie ganz gut“, sagt er und probiert es noch einmal mit lauterer Stimme. Jetzt geht`s. Ohne technische und personelle Hilfe ist der Gröbenzeller „aufgeschmissen“. Seit fast 40 Jahren. Seit dem Unfall, der aus dem sportlichen jungen Teenager einen Mann machte, der sich halsabwärts nicht mehr bewegen kann. Trotzdem ist seine Lust am Leben geblieben. Überall, wo etwas los ist, kann man ihn treffen: Auf Konzerten, auf Partys, in Theatern und im Kino. Das Leben lässt er sich nicht nehmen. Es aufzugeben war nie eine Option.
Claus Hummelsheim ist ein „Ur-Gröbenzeller“. 1967 geboren und aufgewachsen an der Seite seiner Eltern und der Schwester. Ein lebhafter Junge, der gerne draußen und unterwegs ist. Und der einen riesigen Freundeskreis hat. Als Kind will er Flugzeugmechaniker werden, dann Chemielaborant. Er ist gut in der Schule – außer in Englisch. Nach der Hauptschule nimmt er eine Lehrstelle bei Krauss-Maffei als Maschinenschlosser an.
Es ist der 29. Juni 1984. Ein Freitag. Claus Hummelheim ist im 2. Lehrjahr und gerade 17 Jahre alt geworden. Ein Freund hat am Tag zuvor seinen Führerschein bestanden: das soll in der Olchinger Disco gefeiert werden. Zu fünft sitzen sie im Auto, Claus Hummelsheim hinten rechts. Gurte und Kopfstützen auf der Rückbank gibt es noch nicht. Sie fahren gerade über die heute nicht mehr existente Bahnüberführung in Gröbenzell, als ein Hase (oder ein anderes Kleintier?) über die Straße huscht. Instinktiv will der Freund ausweichen. Reißt das Lenkrad herum, verliert die Kontrolle. Mehrfach überschlägt sich das Auto die Böschung hinab. Bleibt auf dem Dach liegen. Alle steigen aus, nur Claus nicht. „Lasst mich. Ich kann mich nicht bewegen“, ruft er den anderen zu.
Ein Freund ist beim Malteser Rettungsdienst. Weiß, was zu tun ist. Der Sanka kommt, der Hubschrauber ist auch unterwegs. Fliegt ihn nach Großhadern. Sechs Tage ist der junge Mann im künstlichen Koma. Dann wird er geweckt. Ein Arzt steht an seinem Bett und kommt gleich zur Sache. „Sie werden damit leben müssen, nie mehr laufen zu können“, sagt der und geht.
Und Claus Hummelsheim? Obwohl er noch nicht einmal seine Arme bewegen kann, ist er nicht wirklich schockiert. „Ich war überzeugt, bei der Zeugnisübergabe der Zwischenprüfung wieder gesund zu sein“, erzählt er. Erst, als ihn kurze Zeit später die „Fast“-Freundin im Krankenhaus besucht und bei seinem Anblick weinend aus dem Zimmer rennt, wird er stutzig. „Es muss mich doch ordentlich erwischt haben.“ Weder das Mädel noch der Fahrer des Wagens oder seine anderen Freunde besuchen ihn. „Nur ein Freund mit seiner Frau sind mir aus der Zeit geblieben“, sagt er, noch immer mehr verwundert und alles andere als nachtragend.
Denn Claus Hummelsheim ist keiner, dessen Gedanken sich im „hätte, wäre, könnte“ verheddern. Die Vergangenheit kann er nicht umschreiben. Was zählt ist das, was ist und werden kann. 14 Tage nach dem Unfall wird er nach Bayreuth verlegt. Für den Jungen „ans Ende der Welt“ – der schlechten Verkehrsanbindung wegen und „weit weg von Zuhause“. Psychologische Hilfe gibt es nicht. „Aber ich habe das gut hinbekommen“, sagt er stolz. Er trainiert fleißig. Schafft es sogar, dass sich sein rechter Arm ein wenig bewegen lässt und den Rollstuhl in Bewegung setzt. Einseitig. Auf dem langen Flur zur Gymnastikhalle bleibt er an der Wand hängen. Viel zu lange dauert es für ihn, bis der Elektrorollstuhl da ist. „Abgestellt zu werden und nicht weg zu können, das war für mich das Schrecklichste“.
Weil die Ärzte sehen, wie glücklich Claus Hummelsheim über die wiedergewonnene Mobilität ist, muss er sein Fahrzeug nicht mit anderen Patienten teilen. Mit einem Ergotherapeuten und einem Tüftler konstruiert er sogar eine Manschette mit Metallstift, den er in die Lenkung einrasten kann, was die Steuerung erleichtert. Die schönste Zeit der insgesamt 13 Monate in Bayreuth sind die letzten sieben Monate. Wegen Martina, seiner ersten richtigen Freundin. Die Physiotherapeutin ist es auch, die ihn drei bis vier Mal in der Woche in ihren Fiat Uno einlädt und mit ihm Ausflüge macht. „Wir waren viel unterwegs“, erzählt er und seine Augen leuchten.
Bis das Elternhaus Rollstuhlgerecht umgebaut ist, vergeht noch eine Weile. Claus Hummelsheim ist in der Pfennigparade untergebracht. „Mit keinem hier möchte ich tauschen“, stellt er beim Anblick der Mitbewohner schockiert fest. Motiviert und sogar begeistert besucht er hier die Schule, holt die Mittlere Reife nach, ist sogar ein Jahr auf der FOS. Mit der Hand schreiben kann er natürlich nicht, dem Computer diktiert der vielseitig interessierte Mann seine Gedanken. Sein Wissen. Immer wieder muss er jedoch wegen Infektionen und weiteren Operationen ins Krankenhaus. Bis heute.
Sein Arbeitgeber riet ihm nach dem Unfall zur Frührente – er bekommt eine Abfindung. Zusammen mit den Zahlungen der Versicherungen kann der aufwändige Hausumbau finanziert werden. Was übrig bleibt, muss zum Leben reichen. In den ersten 15 Jahren nach dem Unfall kümmerten sich die Eltern mit dem Sozialdienst um ihn. Seine Schwester, die damals gerade erst acht Jahre alt war, „und die wegen mir viel zurückstecken musste“, ist immer für ihren Bruder da. „Auch jetzt noch, obwohl sie selbst eine Familie zu versorgen hat und beruflich eingespannt ist“, sagt Claus Hummelsheim dankbar.
Seine Tage sind genau getaktet: 7 bis 8 Uhr Grundpflege (Sozialdienst). 9 bis 13 Uhr Tagesdienst: Aufstehen, Frühstück, Büroarbeiten, Mittagessen. 17 Uhr Katheterwechsel (Sozialdienst), 18 bis 24 Uhr Abenddienst: Abendessen, Filme schauen, Spiele spielen, unterhalten oder ausgehen. In den Lücken und vor allem von 24 bis 7 Uhr – mit Alarmanlage gesichert – ist Claus Hummelsheim allein und auf sich gestellt:
Vor vielen Jahren starb die Mutter, der Vater ist dement und braucht selbst Hilfe. Wenn also die Sauerstoffmaske in der Nacht verrutscht, kann sich Claus Hummelsheim nur mit Mühe so mit der Schulter darauf robben, dass sie nicht mehr zischt. Eventuell notwenige Tabletten lässt er sich am Bett ankleben, damit er sie mit den Lippen abnehmen und schlucken kann. „Ich mache das inzwischen richtig gut“, sagt er stolz.
Zweimal in der Woche kommen Physiotherapeuten – allein sie für den Hausbesuch zu kriegen, ein Glücksfall. Genauso wie Betreuer für den Tages- und Abenddienst, die Claus Hummelsheim aus eigener Tasche zahlen muss. Er muss seine Finanzen genau einteilen, ist aber kein Sozialfall. Und trotz der Atteste der Ärzte bekommt er von der Krankenkasse keine Intensivpflegekraft gestellt. Nach sechs Ablehnungsbescheiden mit dem Argument, ja nicht „lebensbedrohlich“ krank zu sein, gibt er auf. „So tief unten war ich moralisch noch nicht einmal direkt nach meinem Unfall und der Diagnose“, sagt er enttäuscht – und wendet sich wieder anderen Dingen zu.
Claus Hummelsheim ist und bleibt eben ein „Stehauf-Männchen“. Ein Mann mit fröhlichem Gemüt, Humor und positiver Ausstrahlung. Der ins Kino fährt, Konzerte besucht (von Klassik bis Rock), der auf Partys ist und gute Restaurants liebt („ich bin voll der Genießer). Sogar in New York war er schon: Acht Tage lang. Damit erfüllte sich Claus Hummelsheim einen Traum: Ein Konzert im Madisson Square Garden. Er strahlt. „Ich mache einfach nur das Beste aus meinem Leben!“