Ist die Weihnachtsgeschichte ein Märchen?
Woher wissen wir eigentlich, wie und wo Jesus geboren wurde? Ein Fernsehteam war in Bethlehem nicht dabei. Das gab es nur im Science-Fiction-Roman „Das Jesus-Video“.
In den vielen Reden, die von Jesus in den Evangelien überliefert sind, hat er nie seine wunderbare Entstehung erwähnt. Man nannte ihn „Jesus von Nazareth“ und nicht „von Bethlehem“. Es spricht einiges dafür, dass die Story mit Jungfrauengeburt, Krippe und Stall kein Tatsachenbericht ist. Also ein frommes Märchen?
Der katholische Theologe Heinrich Dickerhoff ist Märchenfachmann. Ein Märchen, sagt er, ist eine „kleine Mär“: eine kurze Erzählung, die gut ausgeht. Held oder Heldin ist eine eher schwache Person, die auf einem gefährlichen Weg allerlei Kontakte mit einer anderen Welt hat. Ihre Faszination beziehen Märchen aus unserer Sehnsucht, bedeutsam und kostbar zu sein. Zugleich wissen wir, dass wir uns diese Bedeutsamkeit nicht selbst erarbeiten können. Wie schön wäre es, einfach von Geburt her wichtig und kostbar zu sein, wie das Kind eines königlichen Paares! In vielen Märchen stellt sich am Ende genau das heraus.
Das Grundmotiv vieler Märchen lautet, so Dickerhoff: Trau deiner Sehnsucht mehr als deiner Verzweiflung. Dabei zieht er eine kleine Krone aus der Tasche und erklärt: Christ ist Griechisch, das heißt Gesalbter. Gesalbt wurden damals Könige. Christ sein heißt, ein Königskind zu sein, mit einer unsichtbaren Krone.
Die Weihnachtsgeschichte wird getragen von der gleichen Hoffnung wie die Zauber- und Sagenwelt der Märchen. Aber sie ist keine kleine, sondern eine große Botschaft. „Ich bring euch gute neue Mär“ lässt Martin Luther die Engel in seinem berühmten Weihnachtslied singen, ohne „chen“. Christen glauben: Was in Märchen ersehnt und erzählt wird, ist in der Heiligen Nacht zur neuen Wirklichkeit geworden. Der unendliche Unterschied zwischen Mensch und Gott ist aufgehoben. Gott wird Mensch. Sichtbar durch die Geburt eines Kindes, ein so normaler und doch jedes Mal so wunderbarer, einzigartiger Vorgang.
Das Bewusstsein, königlich gesalbt und gekrönt zu sein, hat gesellschaftliche Auswirkungen. Wer die eigene Krone spürt, sieht die Krone der anderen. Wer sich für Dreck hält, sieht auch in den anderen nur Dreck.
Kürzlich hatte ich Gelegenheit, das von der Schauspielerin Jutta Speidel gegründete Hilfswerk „Horizont“ in München zu besuchen. Viele einst obdachlose Mütter haben dort mit ihren Kindern eine neue, dauerhafte Heimat gefunden. Sie kommen aus über 60 Nationen, aus verschiedensten Kulturen und Religionen. Können sie zusammen etwas feiern? „Oh ja“, sagt die Leiterin, „Weihnachten“.
Werner Tiki Küstenmacher, Baujahr 1953, ist evangelischer Pfarrer im Ehrenamt, Karikaturist, Buchautor und wohnt seit 1984 mit seiner Frau, der Autorin Marion Küstenmacher, in Gröbenzell.