Ein Anwesen wie ein Roman
Fotos: Corinna Eichberger-Renneisen
Text: Christoph Bergmann
Das Gehöft in der freien Landschaft zwischen Olching und Gröbenzell wirkt, als hätten hier schon vor Menschengedenken erste Ackerbauern ihren Pflug gezogen und als wäre nach und nach das stattliche Anwesen entstanden, das es heute ist. Tatsächlich aber ist der alte Zitzstaudenhof in der Olchinger Peripherie ein relativ junger Bauernhof im Landkreis und kann dennoch auf eine bewegte Geschichte zurückblicken. Er war Jagdsitz, kleine Künstlerkolonie, Treffpunkt für Wundergläubige und Flüchtlingsunterkunft. Erst heute ist er wieder ein fast normaler Bauernhof.
1907 hatte ein gewisser Anton Müller den Grund in den Moos-Ausläufern gekauft. Der gelernte Landwirt war in Amerika bei der Trockenlegung der Mississippi-Sümpfe tätig gewesen und hatte von dort zwar auch die Malaria, aber eben auch Kenntnisse in der Entwässerung mitgebracht. Seine Tierhaltung erwies sich allerdings als Zuschussgeschäft. Dennoch hat er wie die meisten späteren Besitzer seine Spuren hinterlassen – in Form eines Wohnhauses, das mehrfach umgebaut heute noch steht.
1918 kaufte ein Münchner Nervenarzt das kleine Gut, ließ es von einem Verwalter bewirtschaften und nutzte den Grund offenbar vor allem zum Jagen. Die große Zeit begann 1932 mit dem sächsischen Güterdirektor Curt Schübner, der den heute unter Denkmalschutz stehenden Torbau im Fachwerkstil errichten ließ.
Richtig Leben kam auf den Hof aber erst ab 1938 mit dem Essener Hotelier Otto Blau, der das Wohnhaus zum villenartigen Gutshaus umbaute, beziehungsweise durch dessen jüngster Tochter Inge. „Die erste Emanze von Olching“ nennt sie Marlies Grandl, die Mutter des heutigen Hoferben Ludwig. Die junge, offenbar sehr lebenslustige Frau soll einmal den Zylinderkopf ihres Mercedes Cabrio so manipuliert haben, dass der scheinbar defekte Wagen nicht für militärische Zwecke beschlagnahmt wurde. Offenbar besaß sie, wohl noch vor dem Krieg, außerdem ein kleines Flugzeug, für das eine Piste und ein Schuppen als Hangar hergerichtet wurden. Und sie liebte Gesellschaft, auch die von Künstlern, die für Kost und Logis mit der Bemalung von Fensterläden zahlten. Solche Anekdoten hat jedenfalls Grandls Schwester überliefert, die über die Hofgeschichte recherchiert hat.
Der prominenteste Künstler, ein Schriftsteller, kam aber im April 1945 auf den Zitzstaudenhof: Der Kinderbuch-Autor und Drehbuch-Schreiber Erich Kästner. Weil ihm in den letzten Kriegstagen angeblich noch die Verhaftung drohte, setzte er sich für vermeintliche Dreharbeiten in Tirol aus Berlin ab und wohnte für einige Tage in „P.“ bei einer Familie „Weiß“, wie er seinem Tagebuch anvertraute. Vielleicht dachte er wirklich, sein Exil gehöre zum nahen Puchheim. Der Farbwechsel im Familiennamen dürfte aber aus Sicherheitsgründen erfolgt sein. Die Blaus waren mit einem Produktionsleiter der Filmgesellschaft UFA bekannt.
Im Krieg musste der Hof aber auch „zum ersten Mal richtig arbeiten“, erzählen die Grandls. Vor allem Gemüse wurde angebaut. Besitzer Blau hatte schon einen motorisierten Traktor und bereits 1946 eine kleine Biogas-Anlage. Zumindest an Arbeitskräften fehlte es damals nicht mehr, denn in mehreren Baracken lebten einige Dutzend Flüchtlinge und Vertriebene.
Weiter ausgebaut wurde die Landwirtschaft dann vom nächsten Eigentümer, dem Wirt des Münchner Löwenbräukellers, der 1951 übernahm. Neben den Gemüseanbau trat die Viehwirtschaft: Es gab eine Molkerei und sogar ein Schlachthaus.
Kurz zuvor war der Zitzstaudenhof noch Schauplatz für ein Ereignis, das etwa 3000 Menschen anzog: Der Auftritt des Wunderheilers Bruno Gröning im September 1949. Er besaß „göttliche Heilströme“, die er in Stanniolkugeln verpackte und an die Gläubigen verkaufte. Ihn selber bewahrten solche Kräfte nicht vor einer späteren Verurteilung wegen fahrlässiger Tötung – er hatte Schwerkranken von einem Arztbesuch abgeraten – und seinem eigenen frühen Hinscheiden. Er starb mit erst 54 Jahren an Magenkrebs. Dennoch gibt es heute noch Gröning-Gläubige, ein „Freundeskreis“ soll weltweit 50 000 Anhänger haben. Ein Feldkreuz in der Nähe des Hofes wird immer wieder von Unbekannten mit kleinen Lichtern und Porträts des Heilers geschmückt.
1960 schließlich kaufte sich die heutige Besitzerfamilie ein. Hoferbe Ludwig Grandl bewirtschaftet heute rund 100 Hektar und baut vor allem Braugerste, Mais und Raps an. Die Böden waren noch nie schlecht, wurden mit abnehmender Nässe aber immer ertragreicher. Heute hat der Hof rund 20 Bewohner und einige gewerbliche Mieter, etwa ein Architekturbüro oder eine Gartenbaufirma. Die Grandls wollen nach eigenen Worten den Charakter des Hofes erhalten und „nicht zu viel Remmidemmi“ auf dem Anwesen. Für historisch Interessierte gibt es aber außen, an Zäunen und Mauern Schautafeln zur Geschichte. Nur der alte Hofname wurde aufgegeben. Weil zu viel Lieferverkehr irrtümlich im Gröbenzeller Zitzstaudenweg strandete, heißt das Anwesen heute Wolfgangshof – so genannt nach der Kirche St. Wolfgang in Pipping (Obermenzing), woher die Grandls ursprünglich stammen. Mit der Kirche soll die Familie seit alters her eng verbunden gewesen sein.