Paradies

Paradies

Als meine Mutter mit mir schwanger war, las Sie den damaligen Bestseller „Kon-Tiki“. Es war ein Tatsachenbericht über die lange Seereise auf einem Balsaholz-Floß von Peru in die Südsee. Da beschloss meine Mutter: Egal, ob ihr nächstes Kind ein Junge oder Mädchen wird, es soll Tiki heißen. So wie der prachtvolle Inka-Sonnengott, nach dem dieses Floß benannt worden war.

Kapitän der spektakulären Tour war der norwegische Biologe Thor Heyerdahl. Schon als junger Student brannte er für die Idee eines absolut naturnahen Lebens. Daher zog er direkt nach seiner Hochzeit mit seiner Frau auf die Südseeinsel Fatu Hiva, um mit ihr im Tropenwald wie Adam und Eva im Paradies zu leben. Es gibt Fotos von ihnen, wie sie nackt unter einem Wasserfall stehen, mit köstlichen tropischen Früchten in der Hand. Aber nach wenigen Wochen mussten sie den Plan aufgeben. Maden und Insekten hatten sich unter ihrer Haut eingenistet, und das junge Paar drohte, buchstäblich von innen aufgefressen zu werden.

Mediziner, die sich mit Naturvölkern beschäftigen, konstatieren trocken: Diese Menschen leben nicht in Einklang mit der Natur, sondern sie sterben im Einklang mit der Natur. Nirgendwo auf der Erde ist die Lebenserwartung niedriger als dort, wo Menschen vollkommen unbeeinflusst von der Zivilisation leben.

In Naturfilmen sieht man manchmal Menschen, die inmitten unberührter Natur schwärmen: was für ein Paradies! Doch das ist stets ein Irrtum. Für jedes Lebewesen ist dieses angebliche Paradies ein pausenloser Kampf ums Überleben. Jedes Tier muss ständig auf der Hut sein, es ist umgeben von Feinden und Gefahren. Jahrhunderttausende lang war das auch bei uns Menschen so. Die Ureinwohner von Fatu Hiva sind an die Küste gezogen, weil das Paradies in der Mitte ihrer Insel für sie die Hölle war.

Ich persönlich bin froh, nicht mehr in der Steinzeit zu leben. Ich bin dankbar, dass die Anophelesmücke im Landkreis Fürstenfeldbruck seit langem ausgerottet ist. Dass ich keine Angst haben muss, durch sie in der Nacht eine tödliche Krankheit injiziert zu bekommen. Meine Mutter erhielt kurz vor meiner Geburt ein Medikament gegen die Rhesusfaktor-Unverträglichkeit, an der meine Schwester vor mir gestorben war. Ich verdanke mein Leben der modernen Medizin. Deswegen bin ich misstrauisch gegenüber radikalen Natur-Lösungen. Ein Paradies hat es nie gegeben. Es ist ein rückwärts gerichteter Traum.

Wir Menschen gestalten und verändern die Erde. Das tun wir schon lange. Unsere germanischen Vorfahren haben die endlosen Buchenurwälder radikal abgeholzt, um Land- und Viehwirtschaft betreiben zu können. Bei ihren Eingriffen in die Natur machen Menschen Fehler. Unsere Großväter und Väter haben mitgeholfen, mit Schwerindustrie und brutaler Großchemie Luft und Wasser in Deutschland zu vergiften. Doch wir Menschen erkennen, was falsch war. Wir sind lernfähig und können Schäden beheben. Ja, wir brauchen Krisen sogar, um uns weiterzuentwickeln. Als ich ein kleiner Junge war, galt der Rhein als für immer vergiftet. Heute kann man wieder darin baden, die Artenvielfalt in unseren Flüssen wächst.

Als Theologe bin ich kein Spezialist für Meteorologie und atmosphärische Physik, wohl aber für die unauslöschliche Würde des Menschen. Und da schrillen angesichts der aktuellen Diskussion um unseren Planeten bei mir die Alarmglocken. Da sehe ich viele ähnlich halbgare Ideen wie Heyerdahls Sehnsucht nach dem Naturparadies im Tropenwald.

Der Kanadier Paul Watson von der Umweltorganisation Sea Shepherd etwa betrachtet die Menschheit als gefährliche Krankheit, die den Planeten Erde bedroht. Und fordert allen Ernstes: „Wir müssen die menschliche Bevölkerung radikal und klug auf unter eine Milliarde senken.“ Wie will er über 6 Milliarden Menschen vernichten? Eine Idee, die von den Auswirkungen her den nationalsozialistischen Rassenwahnsinn und die industriell betriebene Tötung Menschen jüdischer Abstammung weit übertrifft. Nein, um Gottes willen, jeder Mensch hat das unverbrüchliche Recht, auf dieser Erde zu leben und seinen Anteil an den Schätzen der Natur zu bekommen.

Es wird harte Arbeit für uns alle, die Lebensgrundlagen zu erhalten und wiederzugewinnen. Aber einfach nur durch ein Zurück ins Paradies? Naa, wirkli net. So sehr viele auch davon träumen, der Weg ist versperrt. Das wussten schon die Menschen, die die ersten Kapitel der Bibel schrieben.

Werner Tiki Küstenmacher ist evangelischer Pfarrer im Ehrenamt, Karikaturist und Buchautor. Mit seiner Frau, der Autorin Marion Küstenmacher, wohnt er in Gröbenzell.

 

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