Der Hang, die Stangen und sie
Sie hat sie nie gezählt. Keine Ahnung, wie viele der silbern glänzenden Pokale in ihrem Zimmer stehen. Dutzende versammeln sich in mehreren Reihen auf der Fensterbank, die bedeutenderen durften ins Regal. Die wichtigste Trophäe ist aus Holz geschnitzt und hängt an der Wand: Zweiter Platz beim Internationalen Silvretta Schüler-Cup in Samnaun. Über 800 jugendliche Skirennläufer aus ganz Europa schnuppern hier alljährlich rein in die große, weiße Welt des Profi-Skisports.
Da will sie hin: Julia Ewert, 15-jährige Schülerin aus Fürstenfeldbruck. Sie will aufs Sieger-Podest im großen Skizirkus, wo ihr Vorbild Mikaela Shiffrin mit 16 Jahren schon stand. Näher liegende Vorbilder hat sie auch: Lena und Kathi Dürr, die, so wie sie selbst, beim SV Germering zu erfolgreichen Skirennläuferinnen heranwuchsen. Inzwischen trainiert Julia im Kader des Skiverbands München. Nachmittags nach der Schule, jedes Wochenende, in den Ferien im Trainingslager. Immer wieder wird sie auch für einzelne Tage von der Schule befreit – der Schulleiter des Viscardi-Gymnasiums hat Verständnis. Auch das Sommertraining macht Julia Spaß, da spielt man zum Aufwärmen auch mal Fußball, übt Kondition, Kraft und Geschicklichkeit.
„Wenn ein guter Lauf gelingt, ist das einfach ein schönes Gefühl, das möchte man immer wieder haben“, erklärt die Zehntklässlerin ihre Motivation, so viel Zeit und Anstrengung zu investieren. „Mir macht das Spaß, so wie es anderen Spaß macht, den Level eines Computerspiels zu schaffen.“ Während der Abfahrt gebe es nur noch den Hang, die Stangen und sie selbst. Und der schönste Moment sei, „wenn man im Ziel abschwingt, wieder alles um sich herum wahrnimmt und den Sprecher sagen hört: ,neue Bestzeit‘.“
Auf der Rangliste des Deutschen Skiverbands steht Julia in der Altersklasse U 16 momentan auf Platz 9 – die Liste der Konkurrentinnen, die aktiv Rennen fahren, reicht bis Rang 355. In der aktuellen Saison versucht Julia weiterhin, ganz vorne mitzufahren, denn sie möchte zum nächsten Schuljahr aufs Ski-Internat nach Berchtesgaden wechseln – anders sei eine Profikarriere gar nicht zu machen, sagt Julias Mutter Xenia Ewert: „Die Luft ist dünn, der Weg ist steil.“ Sie hat selbst Erfahrung mit Leistungssport, bei ihr war es das Rudern.
Dass Julia Leidenschaft und Biss mitbringt, haben ihre Eltern schon früh erkannt. Mit zwei Jahren machte sie den ersten Skikurs. „Während andere Kinder weinten, weil sie nicht Skifahren wollten, weinte Julia, als der Lift nicht mehr fuhr und sie aufhören musste“, erinnert sich Xenia Ewert. „Mit drei Jahren ist sie beim Zwergerl-Rennen des SV Germering gestartet, hat gewonnen – und dann war‘s passiert. Seitdem ist sie dabei.“
Als Mutter sei ihr wichtig, dass es in Julias Leben auch noch andere Dinge gebe, die ihr Spaß machen, so spielt sie Tennis, Klavier und Klarinette. Und sollte aus der Sportkarriere nichts werden – bei ihrer Zielstrebigkeit kann sie auch viele andere Wege einschlagen.
Text: Doris Stickelbrocks