Vater unser ohne Vater
25 Jahre lang war ich Teil eines aufregenden Projekts: ein Gottesdienst mit rund einer Million Besucher, jeden Sonntag um 10 Uhr. Er besteht aus Predigt, Musik, Segen und Vaterunser. Sonst nichts. Man kann dabei sogar frühstücken, denn es handelt sich um die Sendung „Evangelische Morgenfeier“ in Radio Bayern 1 (danach oder davor kommt immer die „katholische Morgenfeier“).
Rund 100-mal habe ich diesen Gottesdienst gestaltet (der mehr als doppelt so viele Besucher hat, wie sonntags in allen bayerischen Kirchen aller Konfessionen sitzen) und dabei das Vaterunser immer wieder neu entdeckt. Das Gebet, das uns wortwörtlich von Jesus überliefert ist und voller Rätsel steckt.
Ich habe sechs Jahre Theologie studiert, aber den Satz „Geheiligt werde dein Name“ nie wirklich verstanden. Ich habe ihn, wie die meisten, ohne tieferes Nachdenken mitgesprochen. Aber vor gut einem Jahr habe ich es plötzlich verstanden: Diese eigenartige zweite Zeile des Gebets soll verhindern, dass die erste Zeile missverstanden wird.
Menschen jüdischen Glaubens (wie Jesus) dürfen den Namen ihres Gottes nicht aussprechen: Jahwe („Ich bin, der ich bin“). Jesus aber spricht Gott mit einem sehr vertrauten, liebevollen Wort an: Vater. Doch sofort danach stellt er klar, dass jeder Name Gottes „heilig“ ist. Das bedeutet: Er ist kein Besitz des Menschen. So wie das Allerheiligste im Jerusalemer Tempel, das nur der oberste Priester einmal im Jahr kurz betreten durfte. Das Göttliche bleibt unbenennbar und unfassbar. Sogar die Frage, ob es Gott „gibt“, ist völlig unangemessen. Der evangelische Theologe und Widerstandskämpfer Dietrich Bonhoeffer brachte diese Einsicht in einer klugen Paradoxie auf den Punkt: „Einen Gott, den es gibt, gibt es nicht.“
Vor ein paar Jahren erlebte ich eine Art Shitstorm, weil ich in einer Predigt gemeint hatte, dass Gott kein Vater ist. Auch keine Mutter. Dass das alles nur Bilder sind, Hilfsmittel, Krücken, derer wir uns bedienen dürfen, aber nicht müssen. Ich kenne Menschen, die daran zerbrochen sind, Gott als Vater ansprechen zu müssen – weil ihr eigener Vater für sie ein Horror und diese Gottesvorstellung damit für sie vergiftet war.
„Dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit.“ Was für ein Finale! Das Vaterunser ist eine Power-Meditation, dessen Energie sich unabhängig von Glauben oder Religion erleben lässt. Als meine Mutter wenige Wochen vor ihrem Tod in einem Klinikbett lag, hatte sie eine Zimmergenossin, die (wie sie sagte) nicht an Gott glauben konnte. Als ich bei einem Besuch zum Abschied mit meiner Mutter das Vaterunser gebetet hatte, lag diese Frau weinend in ihrem Bett und flüsterte mir zu: „Danke“.
Werner Tiki Küstenmacher, 70 Jahre alt, evangelischer Pfarrer im Ehrenamt, Karikaturist und Buchautor, lebt in Gröbenzell. Ganz neu erschienen: 365 Tage simplify your life, Nextlevel-Verlag. Das mit dem Vaterunser ist dort Tipp Nr. 364.