AUF DER SUCHE NACH DEM X
Fotos: Corinna Eichberger-Renneisen, Text: Petra Neumaier
„50 Minuten“, sagt Ronja von Wurmb-Seibel, „da haben wir ja massenhaft Zeit.“ Okay, wenn sie meint? Aber die Journalistin, Buchautorin, Filmproduzentin und was sonst noch alles, ist eben sehr beschäftigt. Vor allem, seit sie im Frühjahr dieses Jahres ihr Buch herausgebracht hat. Schon in der ersten Woche landete es auf der Spiegel-Bestseller-Liste. Seitdem reiht sich eine Lesung, ein Interview an das andere. Da ist Zeit wirklich ein knappes Gut. „Wie wir die Welt sehen“ heißt der Titel ihres Werkes und darin erklärt sie, warum man lieber auf Nachrichten verzichten sollte, als permanent schlechte Nachrichten zu konsumieren. „Weil schlechte Nachrichten nun einmal keine guten sind“, wird sie gleich zwischen zwei Internet-Live-Interviews in ihrem Garten erklären – und erzählen, wie sie von Eichenau über Hamburg und Kabul nach Dünzelbach kam.
Die Tür ist immer offen – zumindest, wenn Ronja von Wurmb-Seibel zu Hause ist. Bis zur antiken Glocke kommt sowieso niemand. Ein temperamentvoller Spanier kündigt jeden Besucher an – bellend und schwanzwedelnd. Fuku heißt der große Vierbeiner, das japanische Wort für „Glück“. Und das ist auch Ronja von Wurmb-Seibel regelrecht ins Gesicht geschrieben, die nur Sekunden später aus dem Türrahmen strahlt. Nur hereinspaziert in die gute Stube.
Die ist in einem, von außen winzig erscheinenden, 300 Jahre alten Bauernhaus am Ortsende von Dünzelbach (siehe auch: Sonderteil Bauen, Wohnen & Energie) – aber auch irgendwie im Garten. Unter dem Patio, auf bunten Stühlen, neben einer Mauer aus alten Dachziegeln zum Nachbargrundstück. Faul baumelt eine leere Hängematte unter dem Blechdach, zart raschelt der Wind in den Blättern von Bambus und anderen riesigen Stauden. Knorrige Obstbäume schenken Schatten, Rosen strecken sich hoch in den Himmel. Ein Paradies, fast exotisch, dem auch die Journalistin beim ersten Anblick verfallen ist.
Ronja von Wurmb-Seibel liebt das Bodenständige. Das Beständige. Sie, die in ihrem jungen Leben selten bis gar nicht auf einem Boden lange stehen geblieben ist. Aufgewachsen ist sie in Eichenau als Barbara, lieber aber unter ihrem zweiten Namen „Ronja“. Nichts ahnend, nannten ihre Eltern sie nach Astrid Lindgrens Räubertochter, als Wiedergutmachung, weil die Söhne enttäuscht über eine „normale“ Schwester waren. Ronja liebt diesen Namen, die Abenteuer, die hinter ihm stecken. „Und weil er weniger Buchstaben hatte“, sagt sie hinsichtlich der ersten Schreibversuche. Es ist aber auch der Mut des Mädchens, der sie beeindruckt und den sie übernimmt. Und vielleicht auch der Wunsch, wie sie anders zu sein. Andere Wege zu gehen.
Everything you can imgagine is real – lautet das Zitat von Pablo Picasso auf ihrem Notizbuch.
Alles, was du dir vorstellen kannst, ist wahr.
Nach Müllabfuhr und Lkw-Fahrerin, wird ihr Berufswunsch Journalistin. In Garching macht sie ein Praktikum bei der SZ. Ist begeistert. „Lokaljournalismus ist die große Politik im Kleinen“, sagt sie, und strebt trotzdem mehr an. Nach dem Abitur führen Work & Travel erst einmal nach Neuseeland und Australien, wo sie versucht, die Grenzen der Welt zu erreichen – und weil ihr das Reisen viel Spaß macht. In München studiert Ronja von Wurmb-Seibel Politikwissenschaften und wird prompt als Redakteurin im Politikressort bei der ZEIT eingestellt. Ein journalistischer „6er im Lotto“! Sie zieht nach Hamburg. Aber der Bürojob ist nichts für die Abenteurerin. Sie will raus, Menschen treffen, fragen …
„Wenn mich etwas nicht glücklich macht, gehe ich“,
sagt die hübsche junge Frau. Also geht sie und schreibt ihr Testament und die Einladungen zu ihrer eigenen Beerdigung. Und dann? Ronja von Wurmb-Seibel ist 27 Jahre jung, als sie als Freie Journalistin für mehrere Redaktionen nach Afghanistan zieht! Es ist das Jahr 2013. Und es ist alles andere als sicher in Kabul. 2012 war sie schon einmal mit der Bundeswehr in Afghanistan, als das erste Feldlager geschlossen wurde. Sie zuckt mit den Schultern. „Ich habe mich einfach gefragt, wie es ist, einen Krieg zu beenden, der aber noch nicht zu Ende ist. Was das für die Menschen bedeutet, die dortbleiben. Oder für die, die zurückkommen …“.
„Ausgerechnet Kabul“ heißt ihr erstes Buch
Und hier in Afghanistan legt sie auch das Fundament ihres fast zehn Jahre später erscheinenden zweiten Werkes. Denn umgeben von negativen Nachrichten, von tödlichen Anschlägen und Gewalt erlebt sie auch das ganz normale Leben. Picknick am Stausee, Wanderungen, Feste. Alltag. Lauter Dinge, die es nicht in die Nachrichten schaffen, die aber Kraft geben. Ronja von Wurmb-Seibel beginnt, Geschichten anders zu schreiben. Nein, nicht das Blaue vom Himmel. Sie verschweigt nur nicht die Lösungen oder wenigstens die Bemühungen, die hinter Problemen stecken können. Und sie lässt Menschen sprechen, die überleben und erzählen, wie sie überleben – auch in Dokumentarfilmen, die sie mit ihrem Partner und späteren Mann Niklas von Wurmb-Seibel dreht.
Dabei entwickelt die Journalistin auch ihre eigene Formel für den Umgang mit schlechten Nachrichten: Scheiße plus X. Sie lacht: „X steht für Wege aus der Scheiße. Und es ist mir noch nie passiert, dass ich kein X gefunden habe.“ Zur Not schaue sie in die Vergangenheit oder sich in anderen Ländern um, wie dort mit demselben oder ähnlichen Problem umgegangen wird.
2014 entscheiden sich Ronja von Wurmb-Seibel und ihr Partner nach Deutschland zurückzugehen. Sie vermissen noch heute das Land und die Menschen. Vor sieben Jahren verhelfen sie einem jungen Afghanen zur Flucht und schmuggeln ihn über die Grenze – er ist seitdem ihr Pflegesohn. Offen schreibt die Journalistin darüber im SZ-Magazin. Ein Leser zeigt sie an. Das Verfahren wird eingestellt. Und noch heute helfen die beiden ihren afghanischen Freunden bei der Ausreise – derzeit mehr denn je.
„Nachrichten sind lediglich Fehlerberichte. Sie spiegeln aber nicht das gesamte Weltgeschehen wider.“
Zurück erlebt Ronja von Wurmb-Seibel zunehmend, wie all die vielen täglichen, negativen Nachrichten emotional lähmen. Sie erlebt eigene Ohnmacht und die zunehmende Ohnmacht der anderen. So beschließt die Journalistin 2016 auf Nachrichten zu verzichten. Seitdem liest sie keine Tageszeitungen mehr. Nur, wenn es sich nicht vermeiden lässt, hört sie noch kurz rein, liest drüber. Es geht ihr gut damit. Und sie findet wieder Kraft, für Geschichten mutiger Menschen, mutiger Aktionen, eben dem X – und für ihr Buch.
Liebe auf den ersten Blick
In der quirligen Großstadt Hamburg wächst die Sehnsucht nach der Ruhe des ländlichen Raumes. Da melden sich „zufällig“ die Eltern ihrer „ganz, ganz guten“ Schulfreundin, ob sie nicht beim Renovieren des alten Bauernhauses in Dünzelbach helfen wollen. Es ist Liebe auf den ersten Blick. Sie bleiben. Obwohl das Haus eigentlich zu groß für sie ist. Das X: In den drei Gästezimmern geben sie kreativen Menschen Raum und Ruhe, ihrer Arbeit nachzugehen. Wie auch Ronja selbst hier ihr Buch vollendet.
Genau in der Woche wird es veröffentlicht, als der Angriffskrieg auf die Ukraine beginnt – als die Nachrichten voll sind von Bomben und Toten und Gas- und Ölembargos, von Kurseinbrüchen und steigenden Corona-Zahlen sowieso. Die Autorin kann sich kaum retten vor lauter Anfragen und Zuschriften von Menschen, die sich völlig überfordert fühlen …
Ronja von Wurmb-Seibel schaut auf die Uhr. Noch drei Minuten. Sie steht auf. Ob ihr Buch die Medien verändert? Oder die Menschen? Die Journalistin, die ja nicht empfiehlt, gar keine Nachrichten mehr zu konsumieren, sondern eben nur anders, zuckt mit den Schultern. Aber sie hofft auf ein Umdenken und dass sich mehr Menschen bei Problemen fragen, „was kann ich tun.“
Bücher und Filme von Ronja von Wurmb-Seibel
Buch: „Ausgerechnet Kabul“ 13 Geschichten vom Leben im Krieg (2013)
Dokumentarfilm: „True Warriors“ (2017) – Ausgezeichnet beim International Festival of Cinema in Algiers
Dokumentarfilm: „Wir sind jetzt hier“ (2020) – Sieben junge Männer wagen nach ihrer Flucht einen Neustart in Deutschland
Buch: „Wie wir die Welt sehen“ (2022)