Räuber Kneißl
Ein Bier ist genauso nach ihm benannt wie eine Oldtimer-Rallye und ein Radweg. Mindestens fünf Bücher und drei Filme widmeten sich seinem kurzen Leben, auf die Bühne wurde ermehrfach gebracht und einmal sendete der Rundfunk sogar ein Hörspiel über seine Mutter. Und noch 115 Jahre nach seinem Tod am 21. Februar 1902 scheiden sich an dem Schreinerbub aus dem Dachauer Land die Geister: War er ein unerschrockener Rebell gegen eine verhasste Staatsmacht oder doch nur ein feiger und hinterlistiger Krimineller, wie ihn der Staatsanwalt in seinem Abschluss-Plädoyer vor dem Augsburger Schwurgericht nannte? Ein Wohltäter der Armen oder ein Räuber, der sich mit Geschenken und Drohungen Quartier bei den einfachen Leuten verschaffte? Volksheld oder Staatsfeind oder beides? Und warum scheint er sich im Fürstenfeldbrucker Land, wo er seine letzten Wochen in Freiheit verbrachte, größerer Popularität zu erfreuen als in seiner Dachauer Heimat? Wer war dieser Mathias Kneißl?
Vielen, die sich mit zeitlichem Abstand mit seiner Vita beschäftigten, gilt er schlicht als armer Hund, den widrige Umstände auf die schiefe Bahn brachten. Geboren 1875 in Unterweikertshofen und aufgewachsen auf einer abgelegenen Mühle, die Treffpunkt einiger eher lichtscheuer Gestalten war, hatte der junge Mathias schon früh Kontakt mit der Unterwelt. Ein eigentlich nicht untalentierter Schüler, wenngleich handwerklich und an seinem Akkordeon begabter als „mit dem Griffel“, wie ein Lehrer urteilte, erlebte seine ersten Tage hinter Gittern wegen Schwänzens. Obwohl sein jüngerer Bruder die höhere kriminelle Energie besaß, war auch Mathias beim Wildern und Rauben dabei. Als bei einer dieser Unternehmungen ein Gendarm angeschossen wurde, wurden die beiden geschnappt und kamen vor Gericht. Obwohl Mathias nicht geschossen hatte, wurde er zu fast sechs Jahren Zuchthaus verurteilt. Im Gefängnis lernte er das Schreinerhandwerk. Nach seiner Entlassung 1899 fand er vorübergehend Arbeit in Ostbayern, der Meister entließ ihn aber offenbar nicht leichten Herzens, als sich die Vergangenheit seines Gehilfen im Dorf herumgesprochen hatte. Weitere Versuche, eine dauerhafte Stelle zu finden, blieben aus denselben Gründen erfolglos. Ein früher Knastkumpel überredete ihn schließlich zu einem Überfall auf einen Bauernhof. Der gelang zwar, aber der Spezi wurde einige Zeit später als Verdächtiger in einem Prostituiertenmord festgenommen. Um seinen Kopf zu retten, gestand er den Überfall, der ihm ein zeitliches Alibi lieferte, und verriet seinen Kumpanen. Kneißl tauchte unter.
Richtig bekannt – selbst ausländische Zeitungen berichteten nun über den bayerischen Räuber – wurde er nach einem Schusswechsel in dem Weiler Irchenbrunn bei Altomünster im November des Jahres 1900. Zwei Gendarmen, die ihn nach einem Hinweis in einem Anwesen gestellt hatten, wurden von Schrotschüssen aus seiner Drillingsflinte so schwer verletzt, dass der eine noch am Tatort verblutete und der andere nach einer Bein-Amputation an einer Infektion starb. Dass Kneißl offenbar nicht töten wollte, der eine Verfolger nur von Querschlägern getroffen wurde, wurde ihm später nicht als mildernder Umstand angerechnet. Jetzt war er ein Polizistenmörder, für seine Ergreifung wurde vom Innenministerium eine Belohnung von 1000 Mark ausgesetzt, eine damals immense Summe. Die örtlichen Gendarmerie-Stationen in Kneißls vermutetem Aufenthaltsgebiet wurden mit Stadtpolizei verstärkt, ein Telegraphen-Netz für den Nachrichtenaustausch eingerichtet, Fahndungsaufrufe an die Bevölkerung verteilt. Es entstanden mobile Polizeistationen, als Zivilisten getarnte Beamte durchstreiften die Gegend.
Dass der gesamte aufgebotene Staatsapparat dennoch vier Monate brauchte, um einen einzelnen Mann zu finden, dessen bekannte Kontaktadressen überwacht wurden, machte den Kneißl endgültig populär. Vielleicht auch bei jenen, die dem entlassenen Sträfling vorher nie und nimmer Arbeit gegeben hätten. Seine Findigkeit im Versteckspiel – einmal entkam er in einem Odelfass auf dem Leiterwagen eines Bauern – wird dazu beigetragen haben.
Allmählich verbreiteten sich Geschichten wie die herzerwärmende von dem armen Mutterl, das der Mathias inkognito des Nachts ein Stück Weg begleitete, weil sie doch so Angst vor dem schrecklichen Räuber Kneißl hatte. Die Schadenfreude entlud sich in Spottversen und Witzpostkarten über die Ohnmacht der Strafverfolger. Freilich hatten die Beamten auch keinen leichten Stand. Die Bevölkerung war „kneißlerisch“ gesinnt, wie einmal ein Beamter notierte. „Was geht er uns an? Uns tut er nichts“, war zumindest eine weit verbreitete Meinung. Und nicht nur das: Manche machten sich einen Spaß daraus, die als Handwerksburschen oder Hausierer nur unvollkommen verkleideten Beamten wiederum als Kneißl zu melden, woraufhin Gendarmen die eigenen Kollegen jagen mussten.
Je länger die Fahndung dauerte, desto größer der Erfolgsdruck. Ein Maisacher Metzger, der als Schwarzfahrer im Zug vor einem Schaffner Reißaus genommen hatte, löste eine Großfahndung aus. Jeder Fehlschlag sorgte für noch mehr Hohn. Die Einstellung weiter Kreise wirft aber auch ein Licht auf die Prinzregentenzeit, die später ebenso verklärt wurde wie der vermeintliche Rebell gegen eben diesen Staat. Der angeblich gütige Landesvater Luitpold jedenfalls ließ sich täglich über die Kneißl-Jagd berichten und lehnte später ein Gnadengesuch ab. Gerade auf dem Land hatte sich nach wiederholten Agrarkrisen eine tiefe Abneigung gegen das System entwickelt. Und mit ihrem Auftreten gegenüber den einfachen Leuten machten sich einige Repräsentanten des Obrigkeitsstaates regelrecht verhasst. Hätte er Beamte beleidigt, wäre der Kneißl längst gefasst, scherzte die damals führende Satirezeitschrift "Simplicissimus".
Im Rückblick wirkt erstaunlich, wer da zum Revolutionär gemacht wurde. Die einzigen erhaltenen Fotos aus dem Krankenhaus zeigen ein schmächtiges Männchen mit lichtem Haar, im Rollstuhl oder von Pflegern gestützt und weit älter wirkend als gerade mal 25. Freilich war Kneißl bei seiner Festnahme auch fast zum Krüppel geschossen worden und lag monatelang in der Münchner Uni-Klinik. Laut Fahndungsaufruf war er etwas über 1,60 Meter groß, blauäugig und blond und untersetzt. Zu den besonderen Merkmalen zählten Narben von Schusswunden und eine Tätowierung. Früher aber soll er ein hübscher, kräftiger und schneidiger Kerl gewesen sein, der bei den Mädchen Eindruck machte. Von einem "Womanizer" spricht der Brucker Kreisheimatpfleger Toni Drexler, der in seiner Zeit als Leiter des Bauernhofmuseums Jexhof eine Ausstellung über Kneißl und seinen Vorgänger, den bayerischen Hiasl, ausgerichtet hatte. Mit 36 000 Besuchern war es die bis heute erfolgreichste Sonderschau am Jexhof.
Aber wie die Frauen so sind: Sie waren es schließlich, die dem Kneißl zum Verhängnis wurden. Die letzten Wochen vor seiner Festnahme tauchte er im Brucker Land unter, in der heutigen Gemeinde Egenhofen hatte er Helfer in Aufkirchen, Pischertshofen und Geisenhofen und einen Vetter in Unterschweinbach, der Kurierdienste nach München übernahm, unter anderem zu Kneißls Geliebter Mathilde. Deren Mutter ließ sich auf einen Deal mit der Polizei ein: Sie führte die Beamten zum Versteck des Räubers, dafür durfte ihr eigener, schon mehrfach vorbestrafter Lover mit einem Bleiberecht in der Stadt rechnen. Ganz so wie gedacht klappte es zwar nicht, aber die Schlinge um Kneißl zog sich zu. Als zwei Burschen den Räuber mit seiner Mathilde in einem Hof in Geisenhofen sahen und kurz darauf in eine Polizeipatrouille stolperten, war klar, dass die Treibjagd zu Ende ging.
Das Bauernanwesen wurde später zu einem Wallfahrtsort, war es doch Schauplatz der „Schlacht gegen den Kneißl“, wie die Witzblätter spotteten. Bis zu 70 Beamte belagerten den Hof und eröffneten schließlich das Feuer – rund 1500 Einschüsse sollen später gezählt worden sein. Kneißl wurde mehrfach getroffen und durch einen Schuss in den Unterleib lebensgefährlich verletzt, wäre aber wahrscheinlich von aufgebrachten Gendarmen gelyncht worden, hätten sich nicht einige Kollegen über den Schwerverletzten geworfen (und dadurch selbst die Prügel abbekommen). Der Pfarrer wurde gerufen, um die Sterbesakramente zu erteilen, aber Kneißl überlebte den Transport in die Münchner Uni-Klinik – wo er ausgerechnet vom Leibarzt des Prinzregenten operiert wurde. Erst nach monatelanger Rekonvaleszenz wurde er für gesund genug erachtet, um einen Prozess durchzustehen, der ihm dann doch das Leben kosten sollte.
Schon im Krankenhaus soll er einmal in inniger Umarmung mit einer Schwester überrascht worden sein, sogar „hochstehende Damen“ schickten Blumensträuße und Liebesbriefe ins Krankenzimmer. Dabei wunderten sich selbst Gerichtsreporter über die Erscheinung der einstigen Räuberlegende: Mit hohlen, eingefallenen Wangen, erdfahl im Gesicht erschien der Angeklagte am ersten Verhandlungstag im November 1901 vor dem Augsburger Geschworenengericht. Der Prozess hatte auch eine politische Dimension, wurde doch auch die Frage behandelt, ob es Kneißl durch das stille Einverständnis vieler Menschen leicht gemacht worden sei, sein Unwesen zu treiben. Nur die Furcht habe sie getrieben, meinte der Staatsanwalt, denn die Landbevölkerung sei „gottesfürchtig und königstreu bis auf die Knochen“. Der Angeklagte wurde wegen Mordes zum Tode verurteilt. Der leitende Richter der Verhandlung bekam jedoch nach dem Urteil der Geschworenen Zweifel an der Richtigkeit und reichte persönlich ein Gnadengesuch an den bayrischen Justizminister ein. Ohne Erfolg.
Nach heutigem Rechtsverständnis würde man von Totschlag oder Körperverletzung mit Todesfolge ausgehen. Aber ohne die Hinrichtung drei Monate später, glaubt ein Kneißl-Kenner dieser Tage, wäre der Räuber auch nur eine Episode geblieben und nicht zur Legende geworden, um die sich manche Geschichte rankte. Etwa die galgenhumorigen Worte „De Woch' fangt ja scho guat o“, die der Todeskandidat auf dem Weg zum Schafott gefunden haben soll. Tatsächlich wurde er an einem Freitag hingerichtet.
Wahrscheinlich schwand der Räuber nie ganz aus dem Volksgedächtnis, aber erst ein Menschenleben später, nach 1968, begann seine Wiederentdeckung als Widerstandskämpfer. Anfang der 70er-Jahre organisierte der Lehrer und Volksmusiker Hermann Well, Vater von Biermösl-Blosn und Wellküren, ein „Räuber-Kneißl-Singen“ in dem alten Stadel des Geisenhofener Anwesens, der anders als das durchlöcherte Haupthaus nicht schon bald nach der Schlacht gegen den Kneißl abgerissen worden war. Rund 500 Zuhörer kamen. In dieser Zeit entstand auch der erste Kinofilm. Im Brucker Landkreis gelang der Durchbruch zum Mythos dank der Brauerei Maisach. Der damalige Chef Jakob Sedlmayr bemerkte, dass der Rebell von einst immer noch Stammtisch-Thema war und kreierte ein neues, auf dessen Namen getauftes Dunkles, das „sofort eingeschlagen“ habe, wie sich seine Tochter Martina erinnert. Natürlich auch, weil das Bier schmackhaft war, aber eben nicht nur deswegen. Im Bräustüberl-Keller gibt es heute ein Räuber-Kneißl-Museum mit einigen Exponaten (Kneißls Schirm, das Akkordeon eines Spezis) von der vorletzten Jahrhundertwende als Kulisse für Feiern und Veranstaltungen. Dass die authentische Herkunft wie immer bei Reliquien-Sammlungen nicht verbürgt ist, tut dem schaurig-schönen Rahmen keinen Abbruch. Der neue Brauerei-Chef Michael Schweinberger arbeitet ebenfalls mit dem guten Namen von Bayerns beliebtestem Kriminellen. Das Etikett des Dunklen wurde geändert, aus dem gebrochenen Mann von den alten Fotos wurde ein Räuber wie aus dem Bilderbuch. Bald soll es auch ein Räuber-Kneißl-Weißbier geben, im Mai steht ein zweitägiges Fest zum 142. Geburtstag an.
Die erfolgreiche Marketing-Idee kam nicht überall gleich gut an. Schon in den 80er-Jahren gab es Protest gegen die moralisch verwerfliche Verklärung eines Verbrechers, zuletzt wurde im Karlsfelder Gemeinderat heftig diskutiert, ob man einen Straftäter mit einem Radweg ehren dürfe. (Man darf, entschied die Mehrheit.) Weiter hinten im Dachauer Land, in seiner ursprünglichen Heimat, hat man den Kneißl-Kult offenbar immer mit etwas Vorbehalt gesehen. „Hör mir auf“, meinte die Wirtin der Unterweikertshofener Wirtschaft, in der der kleine Mathias zur Welt gekommen war, als sie Toni Drexler auf einen möglichen Werbeträger ansprach. Und ein dort ansässiger Heimatforscher ließ sich einmal so zitieren: „Ein Lump war der Kneißl.“ Das habe schon sein Großvater, ein Zeitgenosse des Lumpen, so gesehen. Aber einen Ort im Dachauer Landkreis gab es, wo man des verlorenen Sohnes gedachte. Der damalige Pfarrer von Sulzemoos begann in den 90er-Jahren, alljährlich an Kneißls Todestag, dem 21. Februar, eine Seelenmesse für den armen Sünder zu lesen. Aber diese ungewöhnlich stille Erinnerung an den großen Räuber ist inzwischen auch schon Vergangenheit. Christoph Bergmann